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Marx, Freud un Adorno auf der Skipiste (Collage)

Die Einsicht der Kritischen Theorie, dass sich gesellschaftliche Bedingungen nicht aus subjektiven Motivlagen ableiten lassen, gleichzeitig das Subjekt in seiner Eigenwilligkeit aber auch nicht allein Träger gesellschaftlicher Bestimmungen ist, verdeutlicht, dass eine Kritik der herrschenden Verhältnisse das psychische Innenleben der Individuen nicht außer Acht lassen darf. Mithilfe der Psychoanalyse lässt sich das Psychische als vergesellschaftete Natur, als Resultat der Verschränkung von leiblicher Not und sozialer Interaktion verstehen.

Dass Gesellschaftskritik auf eine Theorie des Subjekts nicht verzichten kann, um den beharrlichen Fortbestand gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse zu verstehen, ist spätestens seit dem Scheitern der sozialistischen Revolution deutlich geworden. 

Neben den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Praktiken, die nach Marx und Engels1 dem Individuum ein notwendig falsches Bewusstsein gesellschaftlicher Realität aufdrängen und damit revolutionäres Aufbegehren hindern, sind eben auch im Innenleben des einzelnen Subjekts Prozesse und Wirkmechanismen zu verorten, die die Gesellschaft zusammenhalten. 

Hierbei lassen sich jedoch weder die subjektiven noch die objektiven Bedingungen einseitig ins jeweils andere auflösen. Vielmehr trägt eine gesonderte Betrachtung des Innenlebens der Individuen der Beobachtung Rechnung, dass Subjektivität und objektive Totalität unter kapitalistischen Produktions- und Lebensbedingungen nicht zueinander finden können. 

Wie beschreibt also die Psychoanalyse diese in sich abgeschlossen erscheinende psychische Innenwelt der Menschen und welchen Beitrag kann sie damit für eine Kritik bestehender Verhältnisse leisten?

Die vergesellschaftete Natur des Subjekts

Die Genese des Subjekts (und damit im Wesentlichen seine unbewussten Anteile) stellt sich aus psychoanalytischer Perspektive als nicht zu entwirrende Verflechtung von innerer Natur und Vergesellschaftung dar. In der Konzeption Freuds2 entsteht der psychische Apparat des Kindes aus der Lebensnot heraus, also aus biologisch verankerten Bedürfnissen, die zur Sicherstellung des eigenen Überlebens befriedigt werden müssen. Dabei ist das Kind fundamental auf die Zuwendung signifikanter Anderer angewiesen, die dessen Bedürfnisse deuten und entsprechende Befriedigungsmöglichkeiten anbieten. Die somatischen Reize, welche das Kind erfährt und die nach Abfuhr drängen, sind für das Kind selbst zunächst unverständlich; es hat noch keine innere Vorstellung davon, dass bspw. ein Ziehen im Bauch Hunger bedeuten könnte. Erst durch die Reaktion einer Bezugsperson, die das Kind z. B. stillt, wenn es schreit, und die wiederholten Erfahrungen des Kindes, dass das Gestillt-Werden die inneren körperlichen Reize reduzieren kann, erhält das Erleben und das Schreien des Kindes nachträglich eine Bedeutung: Es wird ein Ruf nach Nahrung gewesen sein. 

Der Trieb als psychische Repräsentation somatischer Reize ist also immer schon eine gesellschaftliche Formung innerer Natur, er ist nicht gleichzusetzen mit einem rein körperlichen Drängen, sondern konstituiert sich erst aus der in der Interaktion mit der Umwelt entwickelten Fähigkeit, dem eigenen inneren Erleben eine Bedeutung zu geben, und orientiert sich in seinem Streben an bereits durchlebten Befriedigungssituationen. 

Damit schreibt sich Gesellschaft, vermittelt über die Interaktionen zwischen Säugling und seinen Bezugspersonen, bereits ganz in den Anfängen des Psychischen in das Subjekt ein. Die je individuellen Bedürfnisse des Subjekts speisen sich aus einer unmittelbaren Not und ihrer gesellschaftlichen Vermitteltheit, es gilt sie daher sowohl zu verteidigen als auch ihre herrschaftsstabilisierenden Funktionen innerhalb der Klassengesellschaft zu überprüfen. Denn wenn eine Gesellschaft genau jene Bedürfnisse im Individuum weckt, die sie selbst wiederum, wenn auch nur behelfsweise, zu stillen vermag, erzeugt sie ein persönliches Interesse daran, ihren Fortbestand zu sichern. Da jedoch gerade das gesellschaftliche Moment der eigensten und privatesten Empfindungen unbewusst bleibt, erscheinen die Herrschaftsverhältnisse, die sie produzieren, natürlich gegeben und unveränderbar.

Zur Nachträglichkeit des Psychischen

Bei der Entstehung der psychischen Innenwelt eines Kindes ergeben sich Konflikte zwischen den Triebwünschen und der Möglichkeit ihrer Befriedigung, sei es aufgrund realer Unzulänglichkeiten, sei es aufgrund einer Sanktionierung durch die Umwelt. Diese können interpersonal (mit den primären Bezugspersonen) wie innerpsychisch (zwischen psychischen Instanzen) ausfallen. Die in der individuellen Lebensgeschichte verankerten Konflikte und Beziehungserfahrungen der frühen Kindheit bleiben für die weitere psychische Entwicklung von zentraler Bedeutung. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass ein gegenwärtiges Symptom lediglich als Abbild früherer Konflikte verstanden oder gar deterministisch aus den frühkindlichen Erfahrungen abgeleitet werden kann. Vielmehr werden frühere Konflikte einschließlich ihrer Lösungsversuche in aktuellen Lebensphasen aktualisiert und je spezifisch neu verhandelt. 

Hieraus ergeben sich einerseits Möglichkeiten zur Umschreibung und nachträglichen Bearbeitung des Konflikts, andererseits können neue Erfahrungen das Verständnis und die Bedeutung vergangener Eindrücke verändern und erst nachträglich zum Ausbruch eines Symptoms führen. Dies lässt sich mit dem psychoanalytischen Konzept der Nachträglichkeit verstehen.3 Besonders eindrücklich wird dies in der Entwicklung der sexuellen und geschlechtlichen Identität. Mit der Sozialisation in einer Gesellschaft, die durch je historisch spezifische Prozesse bestimmte Vorstellungen von Geschlecht propagiert und das Subjekt einer heterosexuellen Zwangsmatrix unterwirft, erscheinen frühe Auseinandersetzungen mit dem eigenen Körper und anderen immer bereits vergeschlechtlicht gewesen zu sein. Die frühen sinnlichen Erfahrungen mit dem eigenen Körper, die bedeutsamen Interaktionen mit den Körpern anderer, sei es gleichaltriger oder erwachsener Personen, verändern ihre Bedeutung nachträglich durch die Worte und Bedeutungszuschreibungen, die dafür gesellschaftlich zur Verfügung stehen und entfalten entsprechend ihre Wirkung.

Die Freiheit der Lücke 

Das Individuum wird in der Psychoanalyse gerade unter Ausblendung der Gesellschaft als ein gesellschaftlich konstituiertes konzeptualisiert. Die gesellschaftlichen Bedingungen schreiben sich im Zuge der Genese in das Subjekt ein, doch das, was auf subjektiver Ebene in Erscheinung tritt, wird nicht mit der äußeren Totalität gleichgesetzt. So umfasst das psychoanalytische Vokabular auch keinen ausbuchstabierten Gesellschaftsbegriff, die menschliche Psyche wird als eigenständige, abgegrenzte Sphäre betrachtet. Diese Trennung von Individuum und Gesellschaft lässt sich mit Adorno  als zugleich falsches und richtiges Bewusstsein verstehen. Es ist falsches Bewusstsein, weil die gesellschaftliche Totalität, die den Individuen als ein Äußeres gegenübertritt, von diesen selbst herrührt und sie zugleich durchdringt und es ist richtiges Bewusstsein, weil es die reale Entfremdung des Menschen in der kapitalistischen Klassengesellschaft adäquat erfasst. So, wie Gesellschaftstheorie eine Theorie des Subjekts nicht entbehren darf, gilt es demnach, einer kritischen Psychoanalyse einen marxistischen Gesellschaftsbegriff zur Seite zu stellen.

Darin, dass die Psychoanalyse diese Lücke zwischen Subjekt und Objektivität nicht zu schließen versucht, liegt vielleicht gerade ihr kritisches Potential. Denn sie erklärt zwar, wie sich die äußeren Verhältnisse in die innere psychische Struktur einschreiben und ein herrschaftskonformes Subjekt formen, verweist aber zugleich darauf, dass dies keinesfalls zwingend gegeben ist.4 Das idiosynkratische Subjekt ist weder einfaches Abbild objektiver Irrationalität noch einer linearen zeitlichen Logik unterworfen. Im Modus der Nachträglichkeit erhält Vergangenes neue Bedeutungen und in den Biografien der Individuen kann bei aller Heteronomie ein Schimmer von Kontingenz aufscheinen. Indem die Psychoanalyse nicht von einem mit der Gesellschaft versöhnten Subjekt ausgeht, gerät auch in den Blick, was gesellschaftliche Institutionen den Subjekten antun. Dadurch ergeben sich Anschlussstellen für politische Kräfte, die damit einhergehende Kränkungen nicht autoritär, sondern emanzipatorisch wenden wollen.

  • \ \ \ 1

    Vgl. Karl Marx / Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, 2009.

  • \ \ \ 2

    Vgl. Sigmund Freud, Die Traumdeutung, 2009.

  • \ \ \ 3

    Vgl. Christine Kirchhoff, Das psychoanalytische Konzept der Nachträglichkeit, 2009.

  • \ \ \ 4

    Vgl. Christine Kirchhoff, Hass auf Vermittlung und „Lückenphobie“. Zur Aktualität der Psychoanalyse, in: Phase 2 – Zeitschrift gegen die Realität, 2012/41.