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Cover des Buches "Handeln in einer schlechten Welt. Zur Kritik im Handgemenge"

Einleitung des neuen Sammelbands zu Kritik im Handgemenge

»Herzustellen wäre ein Bewußtsein von Theorie und Praxis, das beide weder so trennt, daß Theorie ohnmächtig würde und Praxis willkürlich; noch Theorie durch den […] urbürgerlichen Primat der praktischen Vernunft bricht.« (Adorno 2003: 761)

»Wir meinen mit Praxis wirklich, daß man mit dem Gedanken, daß die Welt sich von Grund auf ändern müsse, ernst macht. Das muß sich sowohl im Denken wie im Tun zeigen.« (Horkheimer in: Horkheimer und Adorno 1996: 61)

Zwei Ereignisse aus der Geschichte der Kritischen Theorie jährten sich 2023 zum hundertsten Mal. Zum einen wurde 1923 das Institut für Sozialforschung (IfS) in Frankfurt am Main gegründet, zum anderen wurde im selben Jahr – als erstes Theorieseminar des neu gegründeten Instituts – die erste Marxistische Arbeitswoche (MAW) ausgerichtet.1  Beide Ereignisse verweisen auf die diesem Sammelband zugrundeliegende Thematik: das Verhältnis von gesellschaftskritischer Theorie und Praxis im Angesicht gesellschaftlich unhaltbarer Zustände.

In seiner Anfangszeit stand das IfS in einer engen Verbindung zum politischen Marxismus. Das Ziel der Institutsgründung war es, diesem eine »akademische Heimstätte« (Felix Weil; zit. in Erazo Heufelder 2017: 24) zu schaffen. Zu den frühen Beschäftigungsfeldern des IfS gehörten etwa die Herausgabe der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe, eine Zeitschrift zur Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung sowie eigene Forschungstätigkeiten zur Kritik der politischen Ökonomie. Mit dem Antritt Max Horkheimers als Institutsdirektor im Jahr 1931 begann sich dann langsam jene spezifische Denktradition herauszukristallisieren, die in innovativer Weise den Marx’schen Materialismus mit der Freud’schen Psychoanalyse verband, sowie mit den Mitteln der Sozialphilosophie ein interdisziplinäres Programm der gesellschaftskritischen Sozialforschung entwarf. Spätestens seit Horkheimers programmatischem Aufsatz aus dem Jahr 1937 steht das IfS für den Ort Kritischer Theorie. Diese, so Horkheimer, zielt »nirgends bloß auf Vermehrung des Wissens als solchen ab, sondern auf die Emanzipation des Menschen aus versklavenden Verhältnissen« (Horkheimer 2009: 219). Durch diesen Emanzipationsanspruch, der ex negativo – in der bestimmten Negation der Herrschaftsverhältnisse und nicht in der Beschreibung revolutionärer, umwälzender Praxis – vermittelt ist, unterscheidet sich die Kritische Theorie wesentlich von der traditionellen Wissensproduktion. Sie ist nämlich »nicht nur eine intellektuelle Tradition, die eine spezifische Methode artikuliert; sie hat auch einen bestimmten praktischen und politischen Zweck, nämlich Emanzipation« (Allen 2023: 20).

An der Unhaltbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse und der Notwendigkeit von deren Überwindung hat sich seit der ersten Marxistischen Arbeitswoche und der Gründung des IfS vor 100 Jahren wenig geändert, wenngleich die spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen heute andere sind als damals. Massive Erschütterungen durchziehen die Welt des 21. Jahrhunderts und treffen zunehmend auch die kapitalistischen Zentren. Mittlerweile bestimmen ökonomische Verwerfungen und Prekarität das Leben großer Bevölkerungsteile und die digitale Revolutionierung sämtlicher gesellschaftlicher Lebensbereiche trägt eher zur Verschärfung dieser Tendenz als zur Entlastung der Arbeitenden bei. Gleichzeitig werden wir Zeuge eines globalen Aufstiegs von Rechtsautoritarismus, Antisemitismus und Neofaschismus, dem keine nennenswerte antifaschistische Gegenbewegung gegenübersteht. Vielerorts herrscht Krieg, Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht und werden durch eine militarisierte Grenz- und Abschottungspolitik brutal bekämpft. Derweil nimmt die Klimakrise an Fahrt auf und nichts deutet darauf hin, dass der ökologischen Verwüstung Einhalt geboten würde. Diese krisenhafte Zuspitzung von gesellschaftlichen Verhältnissen ist strukturell mit der politischen Ökonomie des Kapitalismus verbunden.

In der gegenwärtigen Krisendynamik stellt sich die Frage nach verändernder Praxis in einer dringlichen Weise. Dass es nicht anders wird, obwohl es anders werden müsste, gibt Anlass für diesen Band. Praktische Kritik an den unhaltbaren Zuständen wird tagtäglich geleistet. Sei es auf der Arbeit, im Alltag, in der Akademie oder in den Feldern des politischen Aktivismus: den Ort der Kritik gibt es nicht. Von einigen politischen Versuchen, die bestehenden Verhältnisse herauszufordern, und ihrem Verhältnis zur kritischen Gesellschaftstheorie, erzählt dieses Buch. Es wird deutlich: Theorie und Praxis können sich beeinflussen, befördern und behindern. Der Streit um die ›richtige‹ Praxis ist nicht immer produktiv und oft frustrierend. Soll kritische Gesellschaftstheorie praktisch werden, muss sie beweglich bleiben, sich irritieren lassen und sich immer wieder der Selbstbefragung unterziehen. Sie ist schonungslos gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen wie gegenüber sich selbst.

Die Frage, die uns in diesem Band maßgeblich beschäftigt, entspringt den laufenden Debatten am Institut für Sozialforschung (IfS 2023a: 13 f.): »Inwiefern und in welcher Weise vermögen Kritische Gesellschaftstheorie und Sozialforschung«, fragt das IfS in seinem kollektiv erarbeiteten Perspektivenpapier, soziale Praktiken und politische Kämpfe »befördern«, die »dem ›Weiter so‹ kapitalistischer Reproduktion auf je eigene Weise in emanzipatorischer Absicht« entgegentreten?

»Scheitern, wieder scheitern, besser scheitern« (Samuel Beckett). Theorie und Praxis heute

Der Einspruch gegen das Bestehende gehört seit eh und je zum guten Ton der Kritischen Theorie; er drückt mit dem Anspruch der Abschaffung aller Zwangsverhältnisse und der Überwindung nicht notwendigen Leidens deren Selbstverständnis aus. Dass die Kritische Theorie deswegen eine unproblematische Beziehung zur praktischen Gesellschaftskritik hätte, wird man allerdings nicht behaupten können. Zwar verstand sich das IfS in seiner Gründungsphase »als intellektueller Begleiter, wenn nicht sogar als aktiver Teil einer politischen Emanzipationsbewegung, als wissenschaftlicher Akteur einer Kritik von gesellschaftlichen Verhältnissen, die systematisch Ausbeutung und Entfremdung, Verdinglichung und vermeidbares Leid produzieren« (IfS 2023a: 4). Aber diese frühe, emphatische Bezugnahme auf praktische Gesellschaftskritik wich relativ bald einem von Distanz geprägten, gebrochenen Verhältnis.

Die Erfahrung des Ersten Weltkrieges, das Ausbleiben der proletarischen Revolution 1918/1919 und das Scheitern der Arbeiter:innenbewegung, die Stalinisierung der Sowjetunion sowie die Erfahrung des aufziehenden Nationalsozialismus, der viele Institutsangehörige in die Flucht und das IfS ins (erst schweizerische, dann amerikanische) Exil zwang, gaben allen Grund, die Hoffnung auf eine Versöhnung von Theorie und Praxis im Sinne einer gesellschaftlichen Emanzipationsbewegung wenn nicht ganz aufzugeben, so doch mindestens zu vertagen. Das Bewusstsein über die Möglichkeit eines Dissenses zwischen Theorie und Praxis und der reaktionären Aufhebung der Verhältnisse war fortan im Denken der Kritischen Theorie fest verankert.

Der marxistische Historiker Perry Anderson (2023) hat in seiner erstmals 1976 erschienenen kanonischen Abhandlung Über den westlichen Marxismus beschrieben, wie dieser, zu dem sowohl die meisten Teilnehmer:innen der ersten Marxistischen Arbeitswoche als auch das Institut für Sozialforschung gezählt wurden, in der historischen Situation entstanden war und wie in ihm die Trennung der vermeintlichen Einheit von Theorie und Praxis vollzogen worden ist. Die Kritische Theorie als eine Strömung im westlichen Marxismus zeichne sich durch eine »Zurückhaltung« (ebd.: 82) bei politischen (und ökonomischen) Problemen und eine inhaltliche Hinwendung zur Ideologie- und Kulturkritik aus. Kurzum: In ihr fielen Theorie und Praxis auseinander. Das Primat der revolutionären Einheit von Theorie und Praxis, wie es der klassische Marxismus postuliert hat, verliere in seiner »westlichen« Spielart an Bedeutung. Vor allem nach der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil habe das IfS »jede Verbindung zur sozialistischen Praxis« (ebd.: 44) aufgekündigt. Auch wenn Anderson die institutionelle Abspaltung von der revolutionären Praxis im westlichen Marxismus als Produkt der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse jener Zeit, als »Resultat einer Niederlage« (ebd.: 52) beschreibt, ist sein Text im Wesentlichen eine Abrechnung mit dem westlichen Marxismus und als polemischer Vorwurf hinsichtlich dessen vermeintlicher Praxisferne formuliert (und rezipiert) worden (Lessenich 2023: 131).

Dem Vorwurf sind mindestens zwei Aspekte entgegenzuhalten. Zum einen handelt es sich bei dem theoretischen und institutionellen Abstand, den die ältere Kritische Theorie zur Praxis eingenommen hat, nicht um eine aktive Distanzierung von der Praxis. Im Gegenteil: »Wir haben nicht die Praxis verlassen, sondern die Praxis hat uns verlassen«, beschreibt Leo Löwenthal (1980: 79) in einem autobiografischen Gespräch aus dem Jahr 1979 nachträglich den politischen Entstehungskontext des Instituts für Sozialforschung in Hinblick auf die immer autoritärer werdende Sowjetunion und den historischen Aufstieg des Nationalsozialismus, der massenhaft von Arbeiter:innen getragen wurde. Mehr noch war das Auseinanderfallen von Theorie und Praxis der Ausgangspunkt der Reflexion, Revision und Weiterentwicklung marxistischer Theorie – kein Verrat an dieser, wie es von Anderson nahegelegt wird. Anders formuliert: Die Kritische Theorie ist eine intellektuelle Reaktion auf das Scheitern der revolutionären Praxis.

Zum anderen hat Anderson, wenn er von Praxis spricht, streng orthodox ausschließlich die proletarische Massenbewegung vor Augen und klammert andere Emanzipationsbewegungen, etwa die feministischen Bewegungen oder die sozialen Kämpfe von Migrant:innen, die vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts relevant wurden und dem westlichen Marxismus (vor allem in Frankreich und Italien) mitunter nahestanden, systematisch aus (Lessenich 2023: 132): »ein guter Teil jener Praktiken, die für eine Revolutionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse infrage kämen, geriet ihm gar nicht in den Blick« (ebd.: 136).2

In der Geschichte der Kritischen Theorie ging es immer auch um eine Bestimmung des Verhältnisses zwischen Theorie und politischen bzw. sozialen Bewegungen mit emanzipatorischem Anspruch.<a class=«footnote__citation js-footnote-citation« id=«footnoteref3_-ZuQaSAvz6oRg8tA-IsvolL0BaJ9w3fknfWM0c5LzaE_hGpTGVk3c6Sg« title=«Anzuführen gegen den Vorwurf der Praxisaversion ist hier die Nähe des IfS zu Gewerkschaften (vgl. IfS 2024b) und zur feministischen Bewegung (vgl. Bojadžijev, Eckart und Speck 2023), vor allem in den 1970er Jahren. Christel Eckart, ab 1972 Mitarbeiterin am IfS, betonte kürzlich in einem WestEnd-Gespräch über feministische und rassismuskritische Forschung am Institut (ebd.: 104) den politischen Anspruch der dort stattfindenden wissenschaftlichen Arbeit. »« href=«#footnote3_-ZuQaSAvz6oRg8tA-IsvolL0BaJ9w3fknfWM0c5LzaE_hGpTGVk3c6Sg«>3 Von diesem niemals konfliktfreien Theorie-Praxis-Verhältnis handeln die Beiträge in diesem Buch, ebenso wie von der Frage, wie Theorie und Praxis heute in eine »dynamische Einheit« (Horkheimer 2021: 42) treten können. Denn dass dieses Verhältnis von Wechselwirkungen und Spannungen gekennzeichnet ist, zeigt sich damals wie heute. Der vorliegende Band lotet Nähe und Distanz von Theorie und Praxis vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Krisenkonstellation aus, um so die Möglichkeiten und Grenzen einer praktisch werdenden Gesellschaftskritik heute zu untersuchen. Um die Idee einer dynamischen Einheit von Theorie und Praxis zu fassen und das Spannungsverhältnis von verschiedenen Blickwinkeln her auszuloten, nähern wir uns mit einem zunächst weit gefassten Begriff der Kritik. Unter ›Kritik‹ fassen wir heuristisch auf der einen Seite die K/kritische Theorie der Gesellschaft, auf der anderen die praktische Infragestellung der bestehenden Verhältnisse durch soziale Bewegungen und Kämpfe.4 Der Sammelband erkundet Vermittlungsmomente und Brüche zwischen diesen beiden Feldern der Kritik und systematisiert Konstellationen von Theorie und Praxis, die die Autor:innen an Phänomenen der historischen oder gegenwärtigen empirischen Wirklichkeit untersuchen. Theorie, so zeigen die Beiträge, kann sich dabei vorantreibend bzw. gestaltend (Praxis der Kritik), dynamisierend (Praxis und Kritik) und reflektierend (Kritik der Praxis) ins Verhältnis zur Praxis setzen.