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Theodor W. Adorno und zwei Mäuse

»Ich müßte lügen, wenn ich Ihnen sagen wollte, daß ich im Bestehenden eine substantielle, neu sich auskristallisierende Bildung, wäre es auch nur der Tendenz nach, beobachten könnte. Ich meine, uns bleibt nichts anderes übrig, als in äußerster kritischer Wachheit und vollem Bewußtsein der Bildung zum Überwintern zu verhelfen, also soviel von ihr festzuhalten, wie uns erreichbar ist, ohne uns doch einzubilden, daß damit etwas Entscheidendes für die Einrichtung der Welt geschehen sei.« (Theodor W. Adorno, 1953)

Der Aufruf dieser Ausgabe konstatiert, dass »die radikale Kritik der Gesellschaft […] institutionell immer mehr Einengung erfährt« und bezieht sich unter anderem auf die verfahrensoffene Ausschreibung in der Nachbesetzung der Professur für Psychoanalyse. Sollte es hier, wie zurecht befürchtet, zu einer verhaltenspsychologischen Nachbesetzung kommen, würde das den Verlust der analytischen Theorie am Fachbereich 05 endgültig besiegeln. So wichtig es ist, damit nicht einverstanden zu sein, so wichtig ist es auch, sich kein falsches Bild von der Universität als Ort der radikalen Kritik der Gesellschaft zu machen. Denn es klingt fast so, als wäre in Uniseminaren früher die Abschaffung von Staat und Kapital vorbereitet worden und als seien diese guten alten Zeiten erst seit der Neoliberalisierung der Hochschulen vorbei. Zwar ist, wie Peter Bulthaup in einem Text zur wissenschaftlichen Hochschule einmal anmerkt, im Grundgesetz die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre geregelt (Art. 5, Abs. 3, Satz 1). Doch weise schon allein dieser Umstand – und der im Gesetzestext gleich darauffolgende Satz – auf die Grenzen dieser Freiheit hin: »Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.« (ebd. Satz 2) Man verharre zwangsläufig also, so Bulthaup, in der »Paradoxie einer flehentlichen Bitte an den Staat, die wissenschaftliche Agitation, die ihn untergräbt, zu fördern.1

Sei’s drum. Im Ergebnis ist es eigentlich egal, ob Kritik, die ihren Namen verdient, je an der Uni möglich war oder es bloß heute nicht mehr ist. Den eingangs zitierten Vortrag hielt Adorno in den frühen Fünfzigern vor Studierenden der Natur- und Ingenieurswissenschaften und schlug darin bereits das Überwintern der Bildung als einzige Strategie zur Rettung ihrer Reste vor. Sich hier in guter Manier auf Adorno zu beziehen, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, war doch auch er eine sehr unwahrscheinliche Persönlichkeit: zugleich Nein-Sager und angekommener Professor2. Und schließlich wusste auch er, dass einmal Gesagtes selten siebzig Jahre lang gleich wahr bleibt; es stellt sich deshalb die Frage, wieso das Bild des Überwinterns für damals wie heute so treffend erscheint, ob als Modus der kritischen Sozialtheorie, oder als Motiv tagespolitisch orientierter Krisenanalyse.

Überwintern als linke Strategie

Dass man gesellschaftlichen Problemen wie Inflation und Energiekrise nicht ausgeliefert ist wie Naturkatastrophen ist aktuell deutlich zu spüren. Dennoch regt sich wenig Widerstand, der auf echte Alternativen hinweist, sodass mal wieder unweigerlich die Frage im Raum steht: Was tun? 

Dem programmatischen Begriff des Überwinterns als mögliche Antwort kommen sehr verschiedene, fast entgegengesetzte Bedeutungen zu. So betont man als theorieaffine Linke gewohnt gebetsmühlenartig die Notwendigkeit des Überwinterns im negativen Sinn – als Bedingung der Möglichkeit sozusagen – und fühlt sich ganz wohl mit dem Gedanken, dass man für entscheidende Veränderungen zum Glück nicht selbst verantwortlich ist. Praxisaffine Linke hingegen machen es in ihrer Betriebsamkeit vor dem Winter den emsigen Tieren nach, die die Vorräte aufstocken, zwischen drei Plenumsterminen wöchentlich eine kritische Einführungsveranstaltung nach der anderen auf die Beine stellen und sich am Wochenende auf der Demo warmmarschieren. Diese Ambivalenz des Überwinterns kennen die gut behütet Aufgewachsenen unter uns schon von der Feldmaus Frederick: Während alle Mäuse eifrig Nahrung sammeln, liegt Frederick nur in der Sonne und lässt es sich augenscheinlich gut gehen. Das Fazit der Kindergeschichte ist, dass es von beidem etwas braucht. Denn am Ende des langen Winters und als die Vorräte zur Neige gehen, können alle Mäuse noch von der Wärme und den Geschichten Fredericks zehren.

Bei aller Versöhnlichkeit, die der Gebrauch dieser Bildsprache vermittelt, bleibt allerdings ein Rest Hilflosigkeit, wenn man vom Überwintern träumt. So ist dieser Traum von eben jenem Glauben an die Naturgesetzlichkeit gekennzeichnet, mit der auf den Winter der Frühling folgt und auf die Einsicht in die schlechten Verhältnisse oder den zwölften Aktionstag die Revolution. Dieses ungelöste Problem, nämlich eine echte Erklärung dafür zu finden, wie der Übergang in die befreite Gesellschaft aussehen soll, eint die Linke, wo der Umgang mit ihm sie spaltet. Überwintern ist deshalb gleichzeitig Ausdruck von Rückzug und Innehalten einerseits, sowie andererseits Erwartung und Vorbereitung des Aufbruchs in ein besseres Morgen. Bloß ist im Frühling die Welt noch keine andere geworden, es beginnt lediglich das Jahr von vorn. Wenn also die Revolution nicht irgendwann von selbst an die Tür klopft wie die ersten Sonnenstrahlen im April, dann ist auch das Überwintern keine vielversprechende Strategie.

  • \ \ \ 1

    Bulthaup, Peter (1998): Die wissenschaftliche Hochschule – Staatsanstalt oder Gelehrtenrepublik. In: Das Gesetz der Befreiung. Und andere Texte. Lüneburg: Zu Klampen.

  • \ \ \ 2

    Pohrt, Wolfang (1984): Der Staatsfeind auf dem Lehrstuhl. In: Klaus Bittermann (Hrsg.), Wolfgang Pohrt Werke, Bd. 4, Edition Tiamat.