Was folgt auf eine unhaltbare Gegenwart?
Im Interview mit Prof. Ingolfur Blühdorn
Ingolfur Blühdorn ist Professor für soziale Nachhaltigkeit und Leiter des Instituts für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit (IGN) an der Wirtschaftsuniversität Wien. 2024 erschien bei Suhrkamp sein Buch Unhaltbarkeit – Auf dem Weg in eine andere Moderne. Über diese mögliche Zukunft haben wir mit ihm gesprochen.
Lennart Bade: In einem bekannten Interview mit Adorno leitete der Reporter mit den Worten ein: »Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung«, woraufhin hin Adorno ihn mit einem platten »mir nicht« unterbrach. Jetzt fragen wir Sie: Schien die Welt Ihnen einmal in Ordnung?
Ingolfur Blühdorn: Ich kann mich an keinen Zeitpunkt erinnern, an dem mir die Welt in Ordnung erschien. Ich gehöre zu den Boomern. Als diese Generation anfing, politisch zu denken, also in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, sah sie sich mit den sozialen und ökologischen Konsequenzen einer langen Phase sehr schneller ökonomischer Entwicklung konfrontiert. Diese Entwicklung hatte großen materiellen Wohlstand gebracht, aber auch erhebliche Krisen.
Sie meinen beispielsweise die Ölkrise von 1973 und die Umweltkrisen der frühen 70er?
Ja, auf die Umweltkrise reagierte sogar der Europarat schon recht früh, als er 1970 zum Europäischen Naturschutzjahr erklärte. Aber neben diesen Krisen gab es auch die Arbeitslosigkeit, die nach Jahren der Vollbeschäftigung in den 1970er Jahren plötzlich erheblich anstieg, oder das Elend in den Ländern des globalen Südens, die man damals noch als die Dritte Welt bezeichnete. Angesichts dieser Krisen – die internationalen Spannungen des Kalten Kriegs gehörten natürlich auch dazu – war die Welt sicher nicht in Ordnung. Aber gleichzeitig mit der Sorge um diese Probleme, entfaltete sich damals auch ein neues Vertrauen, dass die zunehmend selbstbewussten Bürgerinnen und Bürger mit ihren politischen Initiativen und zivilgesellschaftlichen Organisationen gewissermaßen in Eigenregie einen gesellschaftlichen Wandel erreichen und diese Krisen bewältigen könnten.
Es gab also zwar Probleme, aber es gab auch einen großen Optimismus, eine Art Aufbruchsstimmung und eine Vision von einer besseren Gesellschaft, in der diese Probleme gelöst sein würden. Zudem gab es auch eine klare Vorstellung davon, wer das politische Subjekt dieses Wandels sein würde, nämlich eben die Neuen Sozialen Bewegungen, die sich selbst ausdrücklich als die Avantgarde, die Pioniere, einer neuen Gesellschaft verstanden. Insofern war die Welt trotz der Krisen dann doch gewissermaßen noch in Ordnung.
Aber heute ist sie das für Sie nicht mehr?
Nein, für mich jedenfalls nicht. Denn im Unterschied zu der Aufbruchstimmung von damals stehen wir heute halbwegs hilflos vor Großkrisen und einem Gesellschaftswandel, die sich der politischen Beherrsch- bzw. Gestaltbarkeit offenbar weitgehend entziehen. Der in den 1970ern noch gesicherte Glaube an die Machbarkeit des Notwendigen ist heute zerbrochen. In Bezug auf die ökologische Krise ist an deren Stelle eine Art ökologische Unregierbarkeit getreten. Und seitdem – und in dem Maße, wie – das der Fall ist, ist meine Welt nicht mehr in Ordnung.
Allerdings habe ich gerade bewusst gesagt: für mich nicht. Denn auch in der Gegenwart gibt es wesentliche Teile der Gesellschaft, für die die Welt weiterhin halbwegs in Ordnung ist. Ich denke etwa an diejenigen, die bewusst keine Zeitung mehr lesen und sich ins Private zurückziehen, an diejenigen, die vor allem innerhalb bestimmter Blasen denken und kommunizieren, oder auch an die Mitglieder neo-religiöser Gemeinschaften, die ihr Leben wieder in die Hände von einem Lieben Gott legen etc. Ebenso denke ich auch an die, die sich an einer der wesentlichen Erzählungen festklammern, die im politischen Diskurs gerade angeboten werden.
Was meinen Sie? Können Sie konkreter sein?
Ich meine zum Beispiel die rechtspopulistische Erzählung, dass sich die bestehende Ordnung der Nicht-Nachhaltigkeit durch eine Politik der Grenzziehung, Ausgrenzung und Abschiebung weiterhin stabilisieren ließe; oder die bürgerlich-konservative Erzählung, dass der Zerfall des grünen Projekts, den wir gerade erleben, nun endlich den Weg zur früheren Normalität des liberal-demokratischen Wachstumsmodells wieder frei machen würde; und auch die neo-progressive Erzählung von Degrowth, solidarischer Lebensweise und kollektiver Selbstbegrenzung. Diese verschiedenen Angebote haben gemein, dass sie alle die Realität der Spätmoderne verleugnen. Sie sind alle gleichermaßen unhaltbar.
Damit kommen wir zum Titel ihres neuen Buches. Was genau ist jetzt »unhaltbar« und was verbirgt sich hinter diesem Begriff?
Wir haben es in der Spätmoderne zunächst mit einer doppelten Unhaltbarkeit zu tun: Erstens die Unhaltbarkeit der eben schon angesprochenen Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit, deren vielschichtige Nicht-Nachhaltigkeit eigentlich schon lange bekannt und auch unstrittig ist, die aber jetzt tatsächlich vor unseren Augen zerfällt – man denke nur an die bröckelnde Infrastruktur, die Migrationsproblematik, an den Niedergang des Liberalismus, der Demokratie und ihrer Institutionen, an die KI-Revolution, an die Klimakrise oder an die neuen geopolitischen Spannungen.
Zweitens ist auch das Projekt der großen sozial-ökologischen Transformation unhaltbar geworden, das darauf zielte, die Gesellschaft und die Moderne insgesamt wirklich strukturell zu verändern. Projekte im Naturschutz oder technologischen Umweltschutz können auch unter Bedingungen, die ich eben als ökologische Unregierbarkeit bezeichnet habe, mit einiger Anstrengung noch gelingen. Das Projekt einer sozial-ökologischen Transformation, die ein gutes Leben für alle in ökologischen Grenzen ermöglichen sollte, ist in der Spätmoderne aber überholt.
Die Unhaltbarkeit betrifft also sowohl die bestehende Ordnung der Nicht-Nachhaltigkeit als auch das hergebrachte öko-emanzipatorische Projekt. Darüber hinaus betrifft die spätmoderne Unhaltbarkeit aber auch die etablierten Theorieangebote der Soziologie. Anders als die aktivistische Rhetorik von Wende oder Ende es immer nahelegte, führt diese vielschichtige Unhaltbarkeit aber keineswegs zum Weltuntergang, sondern vielmehr in eine ganz neue Moderne, die zu denken uns im Moment noch sehr schwer fällt.
Und wie sieht diese »andere Moderne« aus, auf die wir zusteuern?
Es ist eine Moderne, die sich von den bisherigen Leitnormen und Selbstbeschreibungen der öko-emanzipatorischen Bewegungen und dem westlichen Aufklärungsdenken insgesamt schrittweise verabschiedet, sie zu belastend findet. Sie muss sich dabei nicht radikal von ihren bisherigen Leitwerten trennen. Sie kann weiter an Selbstbestimmung, Freiheit, Demokratie oder Menschenrechte glauben, buchstabiert diese Werte aber ganz anders aus. Es ist eine Moderne, in der der Kapitalismus sich von der Demokratie befreit hat und oligarchisch-autoritär wird; eine Moderne, in der die Demokratie jenseits der bürgerlichen Mündigkeit, des Liberalismus und Parlamentarismus neubestimmt wird, wie etwa in China oder Russland; eine Moderne, in der künstliche Intelligenz viel von dem übernimmt, was die mündigen Bürgerinnen und Bürger derzeit noch an Autonomie beanspruchen, und eine Moderne, die ihr geopolitisches Zentrum wohl eher in China als in den USA haben wird.
An einer Stelle in Ihrem Buch greifen Sie das Diktum auf, wir könnten uns eher das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorstellen. Diese Einsicht etablierte sich seit den 90ern. Und nun fügen Sie hinzu, wir könnten uns eher das Ende der Welt als den Beginn einer nachhaltigen, ökologischen Gesellschaft vorstellen und auch eher das Ende der Welt als den Beginn der gerade beschriebenen neuen Moderne.
In spätmodernen Gesellschaften haben sich Verständnisse von Freiheit, Selbstbestimmung und einem guten Leben herausgebildet, die wir einerseits für völlig unverhandelbar halten, von denen andererseits aber völlig klar ist, dass sie nicht verallgemeinerbar sind und bereits in ihrem gegenwärtigen Verbreitungsgrad sozial und ökologisch höchst zerstörerisch sind. Man denke etwa an unsere gängigen Ansprüche im Bereich der Mobilität, der Kommunikation, der Energieversorgung, des Reisens, der Verfügbarkeit von preiswerten Konsumgütern usf. Gerade die Nachfolgegeneration der Babyboomer kann sich ein Leben ohne die entsprechenden Möglichkeiten, Ausstattungen und Infrastrukturen überhaupt nicht mehr vorstellen. Trotz aller Bekenntnisse zur Nachhaltigkeit gibt es daher einen parteiübergreifenden Konsens, dass die Verteidigung des Wohlstands – unserer Freiheit, unserer Werte und unseres Lebensstils – in der Politik oberste Priorität haben muss. Tatsächlich ist die liberale Demokratie auch zu einem gesamtgesellschaftlichen Rückbau des Wohlstandes, wie eine sozial-ökologische Transformation für ein gutes Leben für alle in ökologischen Grenzen ihn erfordern würde, strukturell gar nicht in der Lage.
Aber bleibt es nicht unsere Pflicht, weiter dafür zu kämpfen?
Ich persönlich würde dem zustimmen. Das hängt aber davon ab, wer oder was uns verpflichtet, bzw. welchen Werten wir uns verpflichtet fühlen. Der christliche Glaube hat uns einmal dazu verpflichtet, die Zehn Gebote einzuhalten. Die Philosophie der Aufklärung hat uns später gelehrt, dass es eine moralische Verpflichtung auf kategorische Imperative der Vernunft gebe. Als man nicht mehr an die Einheit der Vernunft glauben mochte, hat man gemeint, dass es eine Verpflichtung auf ökologische Imperative gebe. Man versuchte, ökologische Imperative auf die Leerstelle zu setzen, die die transzendentale Vernunft hinterlassen hatte.
Die Vorkämpfer des öko-emanzipatorischen Projekts haben ihre Basisprinzipien für heilig, unantastbar, unverhandelbar und objektiv gehalten. Sie haben argumentiert, sie nicht einzuhalten, werde zum Untergang der Menschheit und der Welt führen – zur Apokalypse. Faktisch war diese Apokalypse aber – nur, könnte man sagen – das Ende ihrer normativen Welt und Sinnerzählung, nicht aber das Ende der Welt überhaupt. In der Spätmoderne befreien sich nun große Teile der Gesellschaft von vielen der öko-sozialen Pflichten, die die öko-emanzipatorische Verantwortungsethik für selbstverständlich hielt. Sie erscheinen ihnen nun als inakzeptable Belastung, Einschränkung und Überforderung, als inakzeptable Verbotspolitik oder gar als Öko-Diktatur.
Sie unterstellen der heutigen Moderne also ein unhaltbares Verhältnis zwischen dem Streben nach Selbstverwirklichung und dem ökologischen Ideal der kollektiven, demokratischen Selbstbegrenzung. Kann diese Spannung zwischen emanzipatorischer Befreiung und ökologischer Begrenzung nicht auch anders aufgelöst werden als das in der »anderen« Moderne geschieht, die Sie heraufziehen sehen?
Die Unhaltbarkeit des Verhältnisses zwischen spätmodernen Mustern der Selbstverwirklichung und biophysischen Grenzen ist keine Unterstellung, sondern ein Fakt. Die Ansprüche und Rechte, die wir uns erstritten haben und für unverhandelbar halten, sind nicht verallgemeinerbar. Sie sind weder ökologisch, noch sozial, politisch, kulturell und ökonomisch haltbar.
Aber derartige Spannungen können immer auf zwei Weisen gelöst bzw. bewältigt oder bearbeitet werden. Entweder indem man die realen Verhältnisse den normativen Maßstäben anpasst, die Problemwahrnehmungen zugrunde liegen, oder umgekehrt. Spätmoderne Gesellschaften verfolgen nun entschieden den zweiten Weg. Sie sind erstaunlich erfolgreich darin, Strategien der Ablenkung, der Simulation, des neo-biedermeierlichen Rückzugs und anderer Formen der Komplexitätsreduktion zu entwickeln. Und sie sind auch erstaunlich erfolgreich darin, ihre normativen Maßstäbe anzupassen – etwa im Bereich der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte oder der Ökologie –, wenn die Verteidigung ihres Wohlstands und ihrer etablierten Lebensweise – und seien die auch noch so exklusiv und imperial – das erforderlich zu machen scheint.
Und können wir nicht doch die Verhältnisse im Rahmen unserer normativen Vorstellung anpassen? Ulrich Beck hatte in seiner Risikogesellschaft von 1986 beispielsweise die Hoffnung, die Welt könne durch die geteilte Risikoerfahrung (etwa auch der Klimakatastrophe) zu einer Weltgesellschaft mit gemeinsamen Handlungsideen zusammenwachsen. Als Paradebeispiel für so einen Konsens gilt vielen die »Schließung des Ozonlochs«.
Dieses Denken war typisch für die Zeit, die Beck als die zweite Moderne bezeichnete. Die Hoffnung auf den weltgesellschaftlichen Verteidigungskonsens beruhte auf dem Glauben an eine universelle ökologische Vernunft und auf der Überzeugung, dass wirangesichts der ökologischen Krise alle in einem Boot säßen. In der Spätmoderne ist aber klarer denn je, dass das nicht der Fall ist, und in der neuen, dritten Moderne fordern immer mehr immer unverblümter, manche Boote einfach untergehen zu lassen. Darauf gründen sie ihre Hoffnung, den unhaltbaren Status quo doch noch weiter halten zu können.
Sie haben zwar immer wieder betont, dass es nicht Aufgabe der Soziologie sei, Optimismus zu verbreiten. Aber was bleibt uns nach der Lektüre der Unhaltbarkeitsdiagnose noch zu hoffen?
Die Aufgabe der Soziologie ist vor allem überzeugende Diagnosen zu stellen und klare Analysen anzubieten. Darüber hinaus gehört es auch zu ihren Aufgaben, die eben schon angesprochenen Erzählungen, die im politischen Diskurs und von verschiedenen politischen Akteuren angeboten werden, kritisch auf ihre Plausibilität zu überprüfen – egal, ob diese Erzählungen von Rechtspopulisten, von Bürgerlich-Konservativen, von Neoliberalen oder von ökologischen Aktivisten propagiert werden.
Was Hoffnung und Enttäuschung, Optimismus oder Pessimismus, anbetrifft, wissen wir, dass solche Gemütszustände oder Einschätzungen nie absolut sind, sondern immer nur in Bezug auf die jeweils geltenden Normen und Erwartungen entstehen. Die neu heraufziehende Moderne mag den Verfechtern der verblassenden ökologischen Vernunft- und Verantwortungsethik wie der Untergang des Abendlandes oder gar der ganzen Menschheit erscheinen. Doch wo die entsprechenden Normen nicht – oder nicht mehr – verwurzelt sind, erscheint diese Abenddämmerung womöglich eher als Morgengrauen. Dort herrscht dann eher Aufbruchstimmung als Pessimismus. Die Welt ist dort noch – oder wieder – in Ordnung.
Ich persönlich hoffe weiter, dass es im Sinne einer soziologischen (Selbst-)Aufklärung möglich ist, kritisch auf die Irrtümer und unerwarteten Nebenwirkungen des öko-emanzipatorischen Projekts zu reflektieren, und dass es uns gelingt, deutlich zu machen, dass die Verteidigung der liberalen Demokratie im Vergleich zur rechtspopulistischen Alternative klar das kleinere Übel ist. Zwar hat sich die liberale Demokratie als ein wichtiges Instrument der Politik der Nicht-Nachhaltigkeit erwiesen, aber der Rechtspopulismus macht all denen, die von der liberalen Demokratie im Stich gelassen wurden, ein leeres Versprechen und ist in der Spätmoderne tatsächlich nur der Wegbereiter des oligarchischen und autoritären Kapitalismus.
Herr Blühdorn, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.