Mensch Ärgere Dich Nicht
Der Rechtsstaat gegen zivilen Ungehorsam und Demokratie
»Die Maschine hat den Piloten abgeworfen; sie rast blind durch den Raum. Im Augenblick ihrer Vollendung ist Vernunft irrational und dumm geworden«, schreibt Max Horkheimer in seiner Kritik der instrumentellen Vernunft.1 Die Maschine ist die instrumentell gewordene Vernunft, der Pilot ist der Mensch selbst. Angesichts der schreienden Unvernunft, sehenden Auges die Klimakatastrophe zu befeuern, kann man diesen Satz leicht variiert nutzen, um zu beschreiben, was in Lützerath und Co. passiert: Der Rechtsstaat hat ihre Piloten abgeworfen; er rast blind durch die Klimakatastrophe. In ihrer »Vollendung« hat die liberale Demokratie den Demos längst abgeworfen. Diejenigen, die sich für den Schutz der Lebensgrundlagen einsetzen, für das Überleben der nächsten Generationen überhaupt, werden mit Hilfe und auf Grundlage des Rechtsstaats nicht nur daran gehindert, sondern deswegen auch diffamiert. Der Rechtsstaat ist instrumentell und blind geworden; seine eigentlichen Piloten sind machtlos. So vernichtet er die Lebensgrundlage und wird dabei auch noch verteidigt. Wir können die pilotenlose Maschine nicht verlassen, wir fliegen mit ihr in den Untergang, oder stürzten ohne sie hinab. Die Frage ist nur, warum die Wenigen, die merken, was passiert, daran gehindert werden, zurück ins Cockpit zu klettern. Die Malaise ist tiefgreifend; die pilotenlose Maschine selbst wird heiliggesprochen, und zwar nicht nur wegen ihres rechtsstaatlichen Gehäuses, sondern auch, weil sie mit der Demokratie selbst 2verwechselt wird.
Der Ausruf »show me what democracy looks like” ist dabei bezeichnend. Die bürgerliche Antwort kam sogleich: Viele Kritiker*innen der Letzten Generation und den Lützerath-»Besetzer*innen« berufen sich auf die Demokratie, um die Aktivisten als kriminell zu überführen und damit als undemokratisch zu diffamieren. Sie bezeichnen ausschließlich legales Verhalten als demokratisches Verhalten. So wie hier die Demokratie mit dem Rechtsstaat gleichgesetzt wird, versperren sie sich der Einsicht, dass es zwischen legal und legitim einen Unterschied gibt. Dieser »legal demokratische« Rechtsstaat wurde an der Grenze zur Tagebaukante Lützeraths erfolgreich verteidigt. Gegen all jene, die die Sprache der rechtsstaatlichen Demokratie nicht sprechen. Den Ungehorsamen könne man zwar wichtige und richtige Forderungen abgewinnen, sie würden diese nur falsch oder zu einem ungünstigen Zeitpunkt artikulieren. Oder anders gesagt: »Sprecht meine Sprache oder haltet den Mund!« (Žižek 2011, 75)3 – verhaltet Euch legal (»geht in die Schule«) oder verschwindet. Doch wie sähe ein Verhalten aus, das auf die Mittel des Ungehorsams verzichtet?
Der »Kompromiss«, den die Grünen meinen erreicht zu haben, ist in etwa so viel wert wie sein Wahlkreuz bei den Grünen überhaupt zu setzen: Symbolpolitische Selbstvergewisserung; im Rahmen des liberaldemokratischen Spielbrettes steht man immerhin auf der grünen Seite. Dass das »Mensch-Ärger-Dich-Nicht«-Spielbrett gelblich ist, könne man schließlich nicht ändern. Der Neoliberalismus und die Delegation der Klimapolitik an die »Experten« ist voll entfaltet. Die Gelben Spielfiguren sind längst in ihrem Haus, während die Grünen versuchen, eine Sechs zu würfeln und dabei nicht erkennen, dass der Würfel keine Zahlen hat. Wie anders ließe es sich erklären, zuzulassen, das ausgemachte Klimaziel, willentlich und sehenden Auges zu verbrennen? Wie kommt man auf die Idee, das 1,5-Grad-Ziel innerhalb von noch kürzerer Zeit zu verfeuern und wie kann man dann auch noch stolz auf diesen Zeitgewinn (vor 2030 hört es auf!) sein? Im Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spiel hätten die Grünen wohl gesagt: Ihr dürft mit euren Figuren so viele Züge machen, wie ihr wollt, aber in einer halben Stunde darf ich wieder würfeln – mit dem Würfel ohne Zahlen versteht sich.
Die Entscheidung, Lützerath zu verbrennen, die selbstverständlich zurecht eine Symbolik erlangt hat und beispielhaft für das Versagen »unserer Demokratien« in der Klimapolitik steht, ist leider kein Spiel. Spielfiguren werden gekickt und rausgeworfen – die Aktivisten werden wortwörtlich gekickt und in der Gefangenensammelstelle und vor Gericht von der Gesellschaft und dem weiteren demokratischen zivilen Prozess »rausgeworfen«. Der Zivile Ungehorsam ist in dem Fall die Verweigerung des Zuges im geschmierten Spiel; die Maßnahmen und die bürgerliche Presse zwingen einen mit aller Gewalt, mitzuspielen. Der Rechtsstaat kommt vorbei und bringt den größten Polizeieinsatz des Jahres mit, er leiht sich »Gefangenentransportwägen« von RWE, die damit auch noch Geld verdienen4, lässt Wasserwerfer durch die Gegend fahren und an der lokalen Shell tanken. Dabei gucken tausende Journalisten der ganzen Welt zu und die Polizei mitsamt ihren bis auf die Zähne bewaffneten Tausendschaften lächelt in die Kamera. Alles als demokratische Antwort auf den Protest gegen die Vernichtung der Lebensgrundlagen. Is this what democracy looks like?
Bei einer Rede vor Occupy Wall Street 2011 in New York machte Slavoj Žižek in Abgrenzung zur liberalen US-amerikanischen Presse deutlich, was Demokratie eigentlich erfordert. Die liberale Presse verstand nicht, wieso Occupy in Anlehnung an den »arabischen Frühling« Demokratie einfordere. Wir hätten doch eine Demokratie, meint die liberale Presse, und man müsse genau diese bestehenden Institutionen nutzen, um für die Veränderung zu sorgen, die man haben möchte. Ähnliches ist auch jetzt zu hören, wenn es darum geht, samstags statt freitags zu demonstrieren oder eine Partei zu gründen, statt sich anzukleben. Žižek hatte damals darauf verwiesen, dass der springende Punkt von Occupy eben darin bestehe, die demokratischen Mängel dieser Rechtsstaatlichen Institutionen aufzuzeigen. So wie es auch 2011 keinen Mangel an Kapitalismuskritik gab, sondern schlicht keine Möglichkeit, antikapitalistische Maßnahmen umzusetzen (Žižek 2011, 73f.), so gibt es jetzt keinen entscheidenden Mangel an Klimaschutzmöglichkeiten, es gibt aber in und durch die bestehenden rechtsstaatlichen Instrumente schlicht keine Möglichkeit der Umsetzung. Das ist es, was die Letzte Generation einfordert. Darauf aufmerksam zu machen ist Demokratie. Die Veränderung der rechtsstaatlichen Ordnung an den entscheidenden Stellen einzufordern, die Ordnung aufzubrechen, das ist Demokratie. Es geht nicht darum, in vier Jahren die richtigen Farben der Spielfiguren zu wählen. Es geht darum, das Spiel zu verändern.
Entsprechend ist es nicht gegen das Grundgesetz, Tafeln mit Farbe (»Erdöl«) zu beschmieren. Im Gegenteil, es ist ein Ausdruck, das demokratische Versprechen einzufordern: Gemeinsam den Veränderungen gerecht zu werden, gemeinsam der von Menschen verursachten Klimakatastrophe etwas entgegenzuhalten. Das Grundgesetz zu achten und auch als Forderung zu verstehen, jetzt demokratisch zu agieren. Johannes Agnoli hatte mir seiner »Transformation der Demokratie« (1967) recht: Die Riemen der rechtsdemokratischen Institutionen sind in Takt und funktionieren, allerdings funktionieren sie im demokratischen Sinne umgedreht, »transformiert«.5 Statt, dass das Parlament die Belange der Wählenden an die Regierung heranträgt, statt, dass die Regierung mit den Bürger*innen und durch deren Wahlentscheidungen Politik macht, funktionieren die Institutionen als Rechtfertigung von oben nach unten. Nicht länger werden Belange von unten über die Institutionen nach oben vermittelt, sondern das von oben herab bestimmte wird mittels der (grünen) Parlamentarier als alternativlose Notwendigkeit gerechtfertigt. Wenn Aktivist*innen auf diesen Missstand aufmerksam machen und sei es das symbolische Beschmieren von Grundgesetztafeln, das Absägen von Baumspitzen, das Eintunneln vor Tagebaukanten oder das Kleben auf der Straße – dann weisen sie auf die verdrehten demokratischen Institutionen. Es wird darauf hingewiesen, dass sich die Maschine, in der wir alle sitzen, mitsamt seinem rechtsstaatlichen Gehäuse und seinen (demokratischen) Institutionen in einen Sinkflug begeben hat. Doch statt den Demos wieder ans Steuer zu setzen, vertrauen wir auf die Schwebekraft der Maschine. Die wütenden Passagiere werden ruhiggestellt oder selbst rausgeworfen, wenn sie sich nicht an den Regeln festhalten. Mensch ärgere dich nicht, wir werden schon landen.
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1
Max Horkheimer: ZurKritik der instrumentellen Vernunft (1947). Frankfurt am Main 2007: Fischer. S. 146.
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2
Eine Übersicht über die Diffamierung der Klimaaktivisten habe ich überwiegend dem Artikel von Simon Sahner abgewinne können; deswegen sei er hier verlinkt: Taliban, Reichsbürger, Nazis - Die Kritik an Klimaaktivist*innen hat sich radikalisiert - 54books (15.03.2023).
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3
Slavoj Žižek: „Das gewaltsame Schweigen eines Neubeginns“ in OCCUPY! Die ersten Wochen in New York. Berlin 2011: Suhrkamp. S. 68-77.
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4
Ein Spiegel-Artikel berichtet über die Gefangenentransportwagen, die RWE bereitstellt: https://www.spiegel.de/panorama/luetzerath-warum-die-polizei-fahrzeuge-von-rwe-zum-gefangenentransport-nutzt-a-17703854-058e-4302-9dc8-4b40cb646e33 (15.03.2023).
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5
Johannes Agnoli: Transformation der Demokratie (1967). Hamburg 2007: Konkret Literatur Verlag.