Walter Benjamins Fischotter
Die Kräfte des Rausche(n)s für die Revolution gewinnen
Walter Benjamin, dem der Ruf vorauseilt, ein Denken in Bildern entwickelt zu haben, ist auch ein Denker der Geräusche. Erst in der jüngeren Forschung allerdings haben Autoren wie Asmus Trautsch (2013), Robert Ryder (2020) und Ilit Ferber (2022) der akustischen Dimension seiner Texte verstärkt Beachtung geschenkt, vor allem in der Berliner Kindheit1. Vom Takt des Teppichklopfens, der das Kind in den Schlaf wiegt, bis zum Entmenschten, Schamlosen der Blechkapellen findet der Erinnernde durch die mannigfaltigen Weisen des Hörens, Horchens, Gehorchens und Verhörens sein mit der Stadt verwobenes Selbst wieder. Und mittendrin: ein geheimnisumwittertes Tier. Ein Tier des Zoologischen Gartens, aber auch ein Tier der Gullys und Zisternen. Ein Tier, das vergittert in einem Zwinger und verwöhnt in einem Tempel haust. Ein Tier, das sich nur in einem Nu sehen lässt, bevor es sogleich wieder in eine schwarze Tiefe hinabschnellt. Doch nichts scheint dem Kind (oder dem Erinnernden) lieber als das Warten auf dieses heilige Tier des Regenwassers, dessen Name, Otter, eine Ausgeburt der indoeuropäischen Stämme *aud-, *ued-, *ūd- für ›Wasser‘ ist, die wiederum Dentalerweiterungen der Wurzel *au- für ›benetzen, befeuchten, fließen’ sind. Vielleicht hat der Regen bei Benjamin darum »feine oder grobe Zähne«, mit denen er »Stunden und Minuten strähnt« und schließlich, »wie ein kleines Mädchen […] den Scheitel«, den Tag unter seinen grauen Kamm beugt – Stilbruch an Stilbruch reihend und verschwimmend zugleich. Bestimmt passiert noch keine Revolution, während man dem Zahn der etymologischen Zeit beim Nagen zuhört. Aber vielleicht lässt man – dem Tier ähnlich – sich im Rauschen und Gurgeln der Tiefenzeit ein paar neue Reißzähne wachsen, mit denen man bei nächster Gelegenheit auf schönste katachrestische Weise angreifen kann.
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1
Walter Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, Fassung letzter Hand, Frankfurt a. M. 2006.