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Wie steht es um Sozialphilosophie, um Gesellschaftstheorie, um Kritische Theorie heute? Martin Saar, der als Professor für Sozialphilosophie in den kaum größer vorstellbaren Fußstapfen von Horkheimer und Habermas steht, hat dazu ein neues Büchlein vorgelegt, das verschiedene Essays versammelt. Unser Redakteur hat es gelesen. Eine offizielle Buchvorstellung findet in Frankfurt am 8. Mai um 18:15 Uhr am IG-Farben-Campus im Westend statt (Casino-Gebäude, Raum Cas 1.811). Über die Inhalte des Buches diskutiert der Autor hier mit Katharina Hoppe und Martin Seel.

Sozialphilosophie? Gesellschaftstheorie? Hauptsache Kritik!

Bedeutet jede Sozialphilosophie eigentlich kritische Theorie? Mit der Frage »Was ist Sozialphilosophie« veröffentlichte die berühmte Suhrkamp-Taschenbuch-Wissenschaft-Reihe jüngst ein neues Buch, das sich vermutlich bei vielen angehenden Geistes- oder Humanwissenschaftler:innen und bei eingefleischten Fans der Gesellschaftstheorie im Jutebeutel wiederfinden wird. 

Martin Saar, bekannt als Vertreter der dritten oder vierten oder fünften (je nach Zählung) Generation der Frankfurter Schule, schafft es in seinem Essaysammelband bereits nach wenigen Seiten, die titelgebende Begrifflichkeit »Sozialphilosophie« gänzlich mit »kritische (Gesellschafts-)Theorie« zu ersetzen. So geht es ihm im Folgenden weniger um die Antwort, die hier versprochen wurde, als sei es ein Einführungsbuch, sondern viel mehr um eine Ausbuchstabierung dessen, wie Martin Saar sich kritische Theorie vorstellt. Die Antwort können wir prompt finden: 

»Dieser Art von Theorie geht es, damals wie heute, darum, im Dickicht der vermachteten Gegenwart Schlupflöcher und Spielräume zu finden, von denen aus sich sehen und erleben lässt, dass es anders sein könnte, als es im Bann der gegenwärtigen Herrschaftsformen erlaubt erscheint.« (S. 20) 

Anders ausgedrückt ist die schlichte Antwort: Sozialphilosophie ist Machtkritik (vgl. S. 15), und komplexer ausgedrückt: Kritische Theorie versucht, die Konstitution und Seinsweise des Sozialen »zu kartographieren, zu analysieren und zu problematisieren« (S. 159). 

Die Geburt der Sozialphilosophie aus der modernen Gesellschaftsmacht 

Die Axiome dieser philosophischen Disziplin – von der Saar auch einräumt, dass diese eigentlich Kernbestand des Philosophierens seit Platons Staat war und in der Moderne sukzessive auf dem Abstellgleis geparkt wurde bzw. mit der Fachausdifferenzierung (SoWi, PoWi, KuWi…) Konkurrenz bekam – liegen in der Annahme, dass Individuen in gesellschaftlichen Gefügen leben und dass genau jene die Voraussetzung für Freiheit und Unfreiheit, also für »mehr oder weniger machtvolle« Herrschaftsformen seien (S. 9). 

Die Theorie der Macht, die schließlich kritisiert werden soll, zeichnet Saar mit dem Aufkommen der Modernen nach. Hier finden sich die modernen Gesellschaften; also jene sozialen Gefüge, ohne die der (moderne) Mensch nicht kann; jene Gefüge, die Macht darstellen, dem Einzelnen gegenübertreten und fremdbestimmen – und zugleich menschengemacht sind (vgl. S. 46f.). 

Die Grundannahme jeder Sozialphilosophie der modernen Gesellschaft liegt in der Existenz sozialer Herrschaft, welche die verschiedensten Theoretiker (wie Hobbes, Rousseau, Kant, Hegel, Tocqueville, Nietzsche, Marx) alle feststellen. Und in dem oben benannten Urteil, dass es auch anders sein könnte, liegt die Motivation des Sozialphilosophierens: das »Problematisieren«. Stets mit der impliziten Grundannahme, dass Freiheit (nach welchem Verständnis auch immer) möglich und wünschenswert sei. Das »moralische Gefühl« (S. 13) bzw. die »wertbezogene Frage« (S. 9) – kurzum die Normativität – muss zentral für diese kritische Theorie sein, könne aber nur »immanent«, das heißt innerhalb der Gesellschaft und nicht von außen, ihre Urteilskraft finden. »Was die Kritik nötig gemacht hat, hat sie zugleich auch möglich gemacht« (S. 53). Hier wird die Untersuchung »methodologisch anspruchsvoll« (S. 118) und hier unterscheidet sich die Sozialphilosophie wohl am deutlichsten von beschreibender Soziologie. 

Am anspruchsvollsten wird dann aber Saars normativer Einwurf, dass die kritische Theorie ihren lange vernachlässigten Eurozentrismus und ihren Anthropozentrismus reflektieren solle. Die Grundmöglichkeiten zu dieser kritischen Reflexion und die Aufnahme in die herrschaftskritische Theorie seien (immanent?) vorhanden, so die Idee. Insbesondere mit seinen zehn Thesen zum Verhältnis von Ontologie und Kritischer Theorie (der Frankfurter Schule) will er zum Ende seines Buches ausführen, wie diese beiden Dornen im Auge der Tradition überkommen werden können.

Der Einheitskleber der Sozialphilosophien

Diese Annahme ist gewagt; man müsste die Beweisführung aufstellen, dass der Eurozentrismus und der Anthropozentrismus für die Theorietradition, die hier als die Sozialphilosophie dargestellt wird, nicht konstitutiv sind. Immerhin ist die Kritische Theorie ein Kind der westlichen Aufklärung, des Idealismus und des Materialismus. Wie lassen sich beispielsweise Emanzipation und Autonomie verstehen, wenn sie nicht den Menschen (der emanzipiert und autonom sein soll) in den Mittelpunkt stellen und damit die Notwendigkeit einer gewissen Naturbeherrschung zentral stellen? Ist nicht Sozialphilosophie a priori anthropozentrisch? Saar versucht sich hier mit der Verbindung zu den »neuen Materialismen« herauszuwinden und hält an der Idee einer gelingenden Lebensweise fest, die eben auch ökologisch und in Einklang mit der Natur sein müsse. Dabei offenbart sich allerdings die Schwierigkeit, dass unser »Naturverhältnis immer auch Herrschaftsverhältnis bleibt« (S. 164).

Seine Thesen zu der Verbindungsmöglichkeit von neuen Ontologien (Prozess- und Relationsontologie; die Ideen über »das Politische« sowie die neuen Materialismen) und der klassischen Methodenidee von Horkheimer und Adorno bringen einen vielversprechenden Vorschlag, wie hier produktive Konvergenzen entstehen könnten. Dieser letzte Essay des Bandes (und auch die einzige gänzliche Neuerscheinung) ist das ambitionierte Vorhaben für eine Erneuerung der kritischen Theorie und eine große Vereinheitlichung der sozialphilosophischen Theorieschulen, mit der Idee, sie alle hätten ja dasselbe Ziel der Machtkritik. 

Hier zeigt sich allerdings deutlich, dass diese Essaysammlung eben nicht als Einführungsbuch charakterisiert werden kann. Die verbundenen Stränge greifen eine Vielfalt von Sozialphilosophien der letzten Jahrzehnte auf – insofern können wir dem Buch viel abgewinnen. Von der einen oder anderen Seite des Stranges kommend lernt man etwas über das Gegenüber: Die Kritischen Theoretiker*innen von den französischen Ontolog*innen und andersrum. Dennoch bleibt fraglich, ob diese Zusammenziehung der wahrlich unterschiedlichen Theorietraditionen haltbar bleibt. 

Über allem schwebt dann noch die Frage vom Anfang: Warum muss Sozialphilosophie in direkter Verbindungslinie, gar synonym, zur kritischen Theorie stehen? Können sich die Ontolog*innen, die Theoretiker*innen der neuen Materialismen und die Denker*innen der antikolonialen Studien mit dieser Regenschirmbezeichnung anfreunden? Wieviel Erkenntnis ziehen wir aus der Idee, Sozialphilosophie immer als kritische Theorie zu verstehen, wenn es banal bedeutet: zu erkennen, dass das Menschengemachte auch anders sein könnte? Doch ohnehin sucht jedes »was ist…?« eine (geschichtslose) Definition als Antwort; und genau das kann und will kritische Theorie nicht leisten.1 Aufmerksamen Leser*innen des Bandes stellt sich letztendlich die Frage, was Sozialphilosophie – nach dieser breiten Konzeption — nicht ist.

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    Vgl. Bohmann, Ulf und Sörensen, Paul (2019): „Zur Kritischen Theorie der Politik heute“. In: Bohmann/Sörensen (Hg.): Kritische Theorie der Politik, S. 9-62. Hier S. 27: mit Verweis auf den dort zitierten Satz von Leo Löwenthal: „Wäre sie ein Dogma, ließe sich die Frage, was ist kritische Theorie, sicher einfach beantworten. Letzten Endes entspringt diese Frage einer positivistischen Gesinnung, selbst wenn sie von wohlmeinenden und unabhängigen Geistern gestellt wird.“