Utopie und Anti-Utopie
Über den Black-Panther-Theoretiker Huey P. Newton
Sprache ist einem evolutionären Prozess unterworfen, der sie stromlinienförmiger macht und sicherstellt, dass sie noch auf die sich verändernden Phänomene passt, die sie zu beschreiben versucht. Im Zuge dieser Auslese wurde der sperrige Begriff Anti-Utopie als Gegenstück zur Utopie durch den eleganteren Ausdruck Dystopie ersetzt, als das Genre populärer wurde. Wie es bei evolutionären Prozessen üblich ist, ist jedoch auch hier ein wertvoller Teil des Alten verloren gegangen; der Verweis des Wortes Anti-Utopie auf die Tatsache, dass es zu jeder Utopie auch ein Gegenstück gäbe und umgekehrt. In ihrer aktuellen Ausprägung sind beide Formen nur dadurch politisch interessant, dass sie eine Welt darstellen, die anders ist als die, in der wir tatsächlich leben. Beide Gattungen halten der Gegenwart eine schönere oder schrecklichere Version ihrer Zukunft und damit der Tendenzen ihrer selbst entgegen, niemals aber beide. Die Entscheidung, die dadurch provoziert wird, ist die Entscheidung zwischen der Gegenwart, wie sie ist und der Zukunft, wie sie sein könnte – schön oder schrecklich. Diese Darstellung kann wichtig sein: Möchte ich in einer Zukunft leben, in der sich alles, was jetzt schlecht ist, ins Unerträgliche gesteigert hat? Oder bekämpfe ich jetzt schon die Tendenzen, damit es nicht so weit kommt?
Eine so vereinfachte Entscheidung kann aber auch unpolitisch sein, weil sie breit kritisiert, ohne eine wirkliche Alternative aufzuzeigen. Das führt dazu, dass beispielsweise der dystopische Klassiker schlechthin, 1984, ein Lieblingsbuch rechter Kräfte geworden ist, die heute in allen staatlichen Interventionen das Grauen des Kommunismus erkennen und bekämpfen. Dass Orwell selbst demokratischer Sozialist war, bewahrt ihn nicht davor, einer der einflussreichsten Autoren der zeitgenössischen Rechten zu sein. In beinahe allen seinen Büchern tritt Orwell als Kritiker auf – eine Rolle, die er brillant ausfüllt. Weil er seiner Anti-Utopie aber keine Utopie gegenüberstellt und auch seinen anderen bekannteren Werken, die vor allem Beschreibungen der bitteren Lebensrealität der englischen Arbeiter*innenklasse sind, keine positiven Bilder der Zukunft einprägt, ist es einfach, seine sozialistischen Ansichten zu übersehen oder zu überdecken. Orwell hat ein politisches Erbe hinterlassen, das ihm nicht gerecht wird, weil er seine eigenen politischen Überzeugungen nicht klargestellt hat. Er hat der Entscheidung zwischen der Gegenwart und der grauenhaften Zukunft von 1984 keine dritte Option hinzugefügt, die eine bessere Zukunft enthält, für die man kämpfen könnte. Hätte er das getan, wäre ihm nicht nur seine Wiederauferstehung als Zombie im Dienst der antikommunistischen Rechten erspart geblieben, er hätte seinen Leser*innen auch einen breiteren Entscheidungskorridor geöffnet.
Als erstes Beispiel für die Formulierung von Utopie und Anti-Utopie in einem Werk, für einen breiten Entscheidungskorridor, kann Orwells Zeitgenosse und Schriftstellerkollege H. G. Wells dienen. In mehreren Romanen entwickelt Wells eine Dystopie aus den Tendenzen der Gegenwart, die dann innerhalb des Textes positiv gewendet werden. In Befreite Welt beispielsweise führen Fortschritte in der Kernspaltung und der Atomenergie unter den bestehenden Bedingungen zuerst zu einer zutiefst grausamen, ungerechten Weltordnung und dann zu einem weltweiten Atomkrieg, der die menschliche Zivilisation beinahe zerstört. Erst nach dieser dystopischen Phase, nach der Katastrophe, erkennt eine geläuterte Menschheit die Sinnlosigkeit der verschwenderischen und zerstörerischen Nutzung der ihr geschenkten Kraftquelle und errichtet auf Basis dieser Erkenntnis die befreite Welt des Titels, in der die ungeheure Produktivität der Atomenergie verwendet wird, um die gesamte Menschheit vom Joch des Mangels zu befreien. Aus der Entfesselung der Atomenergie entwickeln sich Anti-Utopie und Utopie aufeinander folgend, auseinander entstehend. Auch wenn Wells damit einen politischen Entscheidungsspielraum über die Nutzung der Atomkraft eröffnet, ergibt sich die befreite Welt bei ihm nicht aus der Gegenwart, sondern aus einer Katastrophe, die in der Zukunft liegt. Das könnte die politische Wirkung seiner Texte wieder einschränken, weil es suggeriert, dass die Bedingungen für eine befreite Welt noch nicht vorliegen; die Dinge müssten sich erst in ihrem ganzen Grauen entfalten, bevor die Menschheit bereit ist, auf diejenigen zu hören, die schon immer die Botschaft der Rationalität verkündet haben.
Noch wirkungsvoller scheint deshalb meiner Meinung nach die Gegenüberstellung von Utopie und Anti-Utopie, die nicht, wie bei Wells, zeitlich aufeinander folgen, sondern als zwei alternative Versionen der Zukunft dargestellt werden. Ein hervorragendes Beispiel für dieses Vorgehen stammt von Huey P. Newton, dem wichtigsten Theoretiker der Black Panther Party. Seine Schriften sind nicht direkt fiktional, sie sind politisch gemeint und konkreter als die Romane Wells‹ oder Orwells. Newton hat diese Visionen nicht einfach in Büchern dargelegt und für sich stehen lassen, er hat sie in Reden, Parteipublikationen, in Interviews oder auf Vorträgen ausgemalt und verwendet. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – erfüllen sie dieselbe Funktion wie die Fiktionen der beiden Schriftsteller: Sie erzeugen Bilder der Zukunft und sie rufen auf dieser Basis zur Handlung auf. Nachdem die Panther in ihren Anfangstagen noch die Forderung nach einem eigenen Nationalstaat auf US-Territorium gestellt hatten, gaben sie diese in den 60ern auf, weil Newton davon ausging, dass es bald keine souveränen Staaten mehr geben würde. Seiner Meinung nach würden die USA und verschiedene globale Konzerne so mächtig werden, dass nationale Selbstbestimmung unmöglich würde. Durch die Weiterentwicklung von Kommunikationstechnologien, Medien, Konsumkulturen und Produktionsmitteln werde die kapitalistische Kultur und Wirtschaftsweise global, gleichzeitig schwinde die Macht der nationalen Regierungen und die Community trete an ihre Stelle. Die Weltgesellschaft wird in dieser Vision zu einem Netzwerk aus Gemeinden, die alle unter dem Einfluss der kapitalistischen Technologien und Wirtschaftsweisen stehen. Newton nennt diese Entwicklung reaktionären Interkommunalismus, weil die Kommunen in ihr nicht selbstverwaltet sind: Die kapitalistische Maschinerie schafft so umfassende Sachzwänge, dass die Demokratie ins Leere läuft und die Menschen nicht wirklich über ihr Leben bestimmen können. Newton geht hier also wie Wells von der Anti-Utopie aus. Er erkennt bestimmte Tendenzen der Gegenwart und warnt vor einer Zukunft, in der sich diese Tendenzen unwidersprochen entfaltet haben.
Dieser Vision einer Zukunft stellt Newton einen eigenen politischen Vorschlag entgegen: Den revolutionären Interkommunalismus. Wie der Name schon sagt, versucht Newton mit diesem Konzept, die Entwicklungen, die er sieht, emanzipatorisch zu wenden. Er erkennt an, dass sich die Formen des Zusammenlebens und die Produktionsweisen durch neue Technologien verändern. Unter diesem Eindruck klammert er sich allerdings nicht an Bilder der Gegenwart und Vergangenheit, sondern entwirft das Bild einer Zukunft, in der sich die Kommunalisierung zwar vollzieht, die Communities aber Gestaltungsmacht über ihre eigenen Lebensumstände haben; in der sich die Automatisierung vollzieht, sie die Menschen aber von der Arbeit befreit, anstatt sie um sie betteln zu lassen. Newtons Bild des revolutionären Interkommunalismus basiert auf einer Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums, einer basisdemokratischen Kontrolle über die eigene Community und einer demokratischen Kontrolle über den technologischen Apparat.
Newton tut hier, in anderer Form und praxisnäher, was auch Wells getan hat: Er erkennt negative Eigenschaften und Tendenzen seiner eigenen Zeit, projiziert sie in die Zukunft und wendet sie schließlich in ihr positives Gegenteil. Beide verdammen nicht einfach eine Entwicklung, sie erkennen das emanzipatorische Potenzial von Technologien, wenn diese von den politischen und sozialen Bedingungen ihrer Zeit befreit werden – wenn sie ihrer kapitalistischen, nationalistischen, kriegstreiberischen Nutzung entrissen werden. So muss kein reiner, zermürbender Abwehrkampf geführt werden, die Ablehnung des Einen trägt die Zustimmung zum Anderen schon in sich und damit auch den Aufruf, dieses Andere zu verwirklichen. Vielleicht noch wichtiger als dieser Aufruf ist die relativ konkrete Handlungsanleitung, die die Gegenüberstellung dessen, was sein sollte, mit dem, was nicht werden sollte, bewirkt.
Um politisch wirkmächtig zu sein, braucht man beides: Kritik und Ideal. Dadurch, dass sich die Werke der beiden Autoren auf konkrete Dinge beziehen, die man umgestalten kann (Atomenergie, Automatisierung etc.) und dadurch, dass sie einen klaren Korridor der Entscheidungsmöglichkeiten vorgeben, sind sie meiner Meinung nach wesentlich politischer als klassische, getrennte Utopien oder Dystopien, weil sie das Gefühl vermitteln, dass Politik nicht nur aus Abwehrkämpfen und Träumen, sondern aus Aushandlungen und Kämpfen besteht. Sie vermitteln das Gefühl, dass die Welt gestaltbar ist und eine Idee davon, wie sie gestaltet werden kann. Vor allem Newtons Version von Utopie und Anti-Utopie, die explizit zwei Versionen unserer eigenen, nahen Zukunft darstellen, erfüllt diesen Zweck. Die Zukunft wird damit wesentlich expliziter in unsere Hände gelegt – mitsamt der Vision einer Welt, um die man gekämpft und die man gewonnen und der Warnung vor der Fratze einer Welt, die man sich selbst überlassen hat. Besonders in der Zeit der digitalen Medien ist der Kampf um die Zukunft ein Kampf der Bilder, sowohl imaginärer als auch realer. Für die Kämpfe unserer Zeit (vor allem die Klimakrise und die Digitalisierung) kann die Mobilisierungskraft solcher Utopien und Anti-Utopien deshalb entscheidend sein – sie müssen nur noch geschrieben und mit Leben erfüllt werden.