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Ein Kind mit einem Schwimmring

Gegen die autoritäre Kollektivbildung

Etwas anderes, etwas besseres als die Nation, das scheint heute tatsächlich eine Utopie zu sein. Der einzige Gegensatz zur Nation, der derzeit in den Lebensweisen vieler greifbar ist, hört auf den Namen Vereinzelung. Sie stellt einen ideologischen Herrschaftseffekt dar, der von den grundlegendsten Ritualen und Praktiken kapitalistischer Gesellschaftsformen erzeugt wird. Vereinzelung findet sich in den Formen des Rechts, als Konstitution des einzelnen Rechtssubjekts, reproduziert wird sie in den Arbeitsprozessen, die durch die Lohnform über Tauschverhältnisse zwischen Einzelnen ihre Fiktion der Freiheit gewinnen. Effekte der Vereinzelung durchziehen alle Lebensbereiche und produzieren etwa Ohnmacht gegenüber den staatlichen Apparaten, wie den Behörden oder auch der Polizei. Durch Strategien, die gebündelt häufig als neoliberal bezeichnet werden, wird sie noch verstärkt. Vereinzelung ist gelebte Handlungsunfähigkeit, obwohl sie doch manchmal als Selbstbestimmung, als Autonomie auftritt. Denn die neoliberalen Strategien haben auch eine befreiende Seite gegenüber den Zwangsgemeinschaften der Familie und eben der Nation. Zwischen der Skylla der Vereinzelung und der Charybdis der nationalen Vereinheitlichung, einen anderen Weg, bessere Lebensweisen zu finden, das scheint eine Utopie zu sein. Aber findet sie sich nicht auch bereits im Hier und Jetzt, überall dort, wo Menschen zusammenkommen und sich gegen ihre Beherrschung zusammentun?

Nation und Familie

Nun verändern sich die Nation und die familiären Formen, mittels derer sie sich reproduziert, ebenfalls immer wieder. Die patriarchale Kleinfamilie des Fordismus scheint in den westlichen Metropolen, wo sie am Weitesten durchgesetzt schien, nur mehr ein Modell unter anderen zu sein, transnationale Lebensverhältnisse stellen die nationale Selbstverständlichkeit in Frage. Hier haben vierzig Jahre sogenannter Neoliberalismus, der immer auch ein Neokonservatismus war, ebenfalls zahlreiche Spuren hinterlassen. Sein zynisches Spiel der ›Befreiung‹ der Individuen von ihren historischen Lebensbedingungen, die zumeist nationale Kompromissbildungen zwischen den Klassen darstellten, brachte Nation und Familie nicht zum Verschwinden, sondern verankerte sie auf gewandelte Weise in den Vorstellungswelten. Damit ist auch gesagt, dass der derzeit um sich greifende Nationalismus kein von vorneherein zum Scheitern verurteiltes Projekt der Vergangenheit ist. Er knüpft an die neoliberale Zerstörung an, insofern er aus den Trümmern der kollektiven Lebensbedingungen die Kräfte bezieht, um die Vorstellungen der Familie und der Nation erneut zu stärken und zu fixieren. Keine Nation hatte jemals eine bestehende ethnische Basis, sondern ihre Konstitution bedeutete immer eine fiktive Gemeinschaftsbildung. Will man nicht den rechten Mythen von Ursprung und Heimat das Wort reden, gilt es die historische Permanenz von Migrationsbewegungen ins Auge zu fassen und gegen jede Fixierung von kollektiven Identitäten auf die historischen Prozesse ihrer Herstellung zu schauen. In dieser Hinsicht lässt sich derzeit beobachten, wie in zahlreichen Auseinandersetzungen in allen Bereichen der Gesellschaft neue Linien des Ein- und Ausschlusses gezogen werden, wie die nationalen Identitäten im Rückgriff auf Altes aber auf teilweise neue Weise fixiert werden.

Die nationalen Gemeinschaften sind autoritäre Kollektivbildungen. Sie bannen die Einzelne, wenn sie sich dem zu entwinden versucht, wird sie zur Verräterin erklärt. Doch als autoritäre Kollektivbildungen versprechen sie Handlungsfähigkeit. Die national identifizierten Subjekte sagen ›wir‹ und wissen wer gemeint ist und wer nicht. Man könnte sagen, dass die nationale Identifikation ein Gefühl der ›Solidarität‹ erzeugt. Als solche vermag sie vielleicht wirklich bestimmte Momente der Ohnmacht durch Vereinzelung aufzulösen, sie bedeutet dabei aber keine Ermächtigung, sondern eine andere Art der Gängelung der national eingeschlossenen Subjekte. Zugleich ist sie mit Praktiken der Entsolidarisierung verknüpft, die eine Logik des Ausschlusses, der Diskriminierung, der Gewalt und Entrechtung befeuern.

Erfindung eines neuen Gemeinsamen?

Da die Nation die herrschende politische Form der letzten gut zweihundert Jahre bildet, erscheint mir die Kritik an ihr heute weiterhin zentral. Die Notwendigkeit dieser Kritik zeigt sich auch dort, wo es nicht in erster Linie um den Rassismus zu gehen scheint, der die Nation-Form immer begleitet hat, dort, wo ein anderer historischer Name für die Überwindung von Ohnmacht und für Solidarität ins Spiel gebracht wird, nämlich die ›Klasse‹. Das ›Wir‹ der Klasse ist heute nicht selten komplett in der nationalen Identifikation gefangen 

und somit selbst eine fixierte Identität. In diesem nationalen Kurzschluss liegt die Macht der Anrufungen einer Zeit vor der neoliberalen Verwüstung des Sozialstaats: Die Sehnsucht nach kollektiven Sicherheiten und Verteidigungen wird mit den vergangenen national-sozialen Kompromissen so verknüpft, dass die Nation als ihre einzige mögliche Realisierungsform erscheint. Auch hier werden folglich Prozesse der Migration in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft leicht zu einer Bedrohung verklärt. Rassistische Phantasmen knüpfen daran an und finden ihre ideologische Infrastruktur in der durchdringenden Nationalisierung der Verhältnisse zwischen den ›Klassen‹. Die Gegenvorstellung dazu wäre, dass Klassen sich immer neu zusammensetzen, und nicht als präexistente Einheit außerhalb der Kämpfe entstehen, und folglich dass die Prozesse ihrer Zusammensetzung immer schon über die nationalstaatlichen Begrenzungen der Massen hinausreichen. Weil das Gemeinsame zwischen unterschiedlich ein- und ausgeschlossenen Teilen der Massen jedoch nicht gegeben ist, sei es durch einen nationalen Mythos, sei es durch die Vorstellung einer einheitlichen Lage, muss es erst noch erfunden werden. In dieser Erfindung des Gemeinsamen, die bestehende nationale Ein- und Ausschlüsse zurückdrängt, liegt meines Erachtens das Versprechen einer Kraft, die das Pendeln zwischen autoritären Kollektivbildungen und Vereinzelung unterbricht. Doch die gemeinsame Erfindung und Organisation solcher Kollektivbildungen scheint heute utopisch. Verzweifelt wirken die Hinweise auf all jene, die sich im Alltäglichen der nationalen Identifikation bereits kollektiv zu entwinden versuchen und so zugleich die Vereinzelung zurückdrängen. Was lässt sich dagegen sagen, dass der Blick auf widerständige, subalterne Kollektivbildungen in Zeiten der Faschisierung weniger Hoffnung als Furcht verbreitet? Dass ihre Schwächung und Zerstörung allenthalben greifbarer erscheint, als ihre Ausdehnung? Vielleicht nur, dass jede fatalistische Vorstellung der Bedingungen für eine Veränderung lediglich die untergeordnete Position reflektiert, in der sich die alternativen Politikformen derzeit befinden. Dass es leichtfällt, die Ausdehnung dieser Lebensweisen als Utopien abzukanzeln, unterstreicht bereits die Stärke der Faschisierungsprozesse. Doch die in diesen Prozessen kursierenden Bedrohungsszenarien zeigen auch, dass alle, die mit solchen Lebensweisen assoziiert werden, zum Feind erklärt werden. Der Antikommunismus ist auf dem Vormarsch und zielt häufig auf Kräfte, die noch nicht einmal sozialdemokratisch zu nennen sind. Es ist klar, dass der Faschismus nicht nur die Vorstellungskraft lähmt. Er zielt, bei aller Divergenz seiner historischen und aktuellen Formen, auf ein statisches Verhältnis zwischen übergeordneter faschistischer Führung und dem untergeordneten Volk als homogener Gemeinschaft. Er zielt auf die Zerstörung jeder Form demokratischer, selbstorganisierter oder selbstbestimmter Aktivität. Seine Stützen sind die Vereinzelung und die nationale Vereinheitlichung, er transformiert die Ohnmacht und Angst der Vereinzelung in eine kollektive Gefahrenabwehr, die sich gegen alle richtet, die zu einer solchen Gefahr gemacht und erklärt werden. Wir sollten nicht vergessen, wer das alles in der Vergangenheit war, und nicht aus den Augen verlieren, wer heute alles zur Verfolgung auserwählt wird. Die faschistischen Redner sagen es jeden Tag: Verfolgt werden jene, die als Bedrohung für die familiäre und damit sexuelle Ordnung gelten, jene, die als Gefahr für die Nation gelten. Wer dem faschistischen Versprechen folgt, kämpft für seine eigene Unterwerfung, als wäre es sein Heil. Haben wir dem wirklich nur Utopien entgegenzusetzen?

August 2024