Zum theoretischen Hintergrund und den politischen Praxen studentischer Bewegungen in Deutschland (1968 – 1984)
»Es gibt keine freie Gesellschaft ohne Stille, ohne einen inneren und äußeren Bereich der Einsamkeit, in dem sich die individuelle Freiheit entfalten kann. Wenn es in einer sozialistischen Gesellschaft kein Privatleben, keine Unabhängigkeit, keine Stille, keine Einsamkeit gibt, nun, dann ist sie eben keine sozialistische Gesellschaft! Noch nicht…« (Herbert Marcuse, 1969) (vgl. PS)
Die »Alten« Theoretiker werden ausgegraben
Mitte der sechziger Jahre wurden viele Schriften aus dem Umfeld der »kritischen Theoretiker« um das Institut für Sozialforschung in Frankfurt als Raubdrucke neu aufgelegt. Es waren meist die Arbeiten und empirischen Untersuchungen aus den dreißiger und vierziger Jahren. Die 1937 von Max Horkheimer verfasste, als programmatisch anzusehende Arbeit Traditionelle und Kritische Theorie* diskutierten einige Avantgardezirkel im und um den SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Mit dem Rückgriff auf diese programmatische Schrift des Instituts für Sozialforschung kritisierten diese studentischen Kreise gleichzeitig die bürgerliche Gesellschaft und die marxistische Orthodoxie des Marxismus-Leninismus. Wieder entdeckt wurden auch die Untersuchungen zum Autoritären Charakter*, zur Entstehung von Vorurteilen und zum Antisemitismus. Besondere Beachtung fand der 1942 zum Gedächtnis Walter Benjamins geschriebene Artikel Autoritärer Staat*. Autoritär organisiert waren eben nicht nur die nationalsozialistischen Strukturen, sondern auch die gesellschaftlichen Zusammenhänge im Nachkriegsdeutschland und in den eigenen Elternhäusern.
Antiautoritäres Verhalten gegenüber den staatlichen Institutionen wie Universität, Schule und gegenüber den (Nazi-)Eltern sowie die Gestaltung der eigenen Lebenszusammenhänge sollten die alten Strukturen aufbrechen, neue Lebensformen herstellen, die gesellschaftliche Demokratisierung vorantreiben. In der wichtigen Denkschrift des SDS Demokratie und Hochschule wurde auf den Mangel an demokratischen Strukturen und die Gefahr des autoritären Staates direkt hingewiesen: »Entweder wirkt die Hochschule mit an der dynamischen Weiterentwicklung zur sozialen Demokratie und der Demokratisierung der Gesellschaft, oder sie wird Instrument in einer Entwicklung zu autoritären Gesellschaftsformen.«
Darüber hinaus erlangte Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung* (1947) während der Jahre der Studentenbewegung späte Berühmtheit. Die Dialektik der Aufklärung rekonstruiert schonungslos den geschichtsphilosophischen Zerfall der Vernunft und deren zivilisatorischen Selbstzerstörungsprozess. Diente Vernunft als Mittel zur Selbsterhaltung und zur Stütze der Autonomie des Menschen, so hat sie sich in den kapitalistischen Systemen ganz in den Dienst der Herrschaft gestellt: Herrschaft der Menschen über die Natur und Herrschaft der Menschen über Menschen.
In der ebenfalls 1947 erschienen zeitdiagnostischen Kritik der instrumentellen Vernunft* von Max Horkheimer – unter Mitarbeit von Leo Löwenthal verfasst – wird genauer analysiert, wie die emanzipatorischen Momente der Vernunft ins Zerstörerische umschlagen: »Das Fortschreiten der technischen Mittel ist von einem Prozess der Entmenschlichung begleitet. Der Fortschritt droht das Ziel zunichtezumachen, das er verwirklichen soll – die Idee des Menschen.« Die »Idee des Menschen«, wie sie während der Aufbruchsstimmung der Aufklärung naiv idealistisch gedacht werden konnte, hat nach Auschwitz alle Unschuld verloren. Kompromisslos formulierte Adorno dies in der Negativen Dialektik*: »Ich denke an Auschwitz, muß alle meine Vorstellungen begleiten können.«
Mit den frühen Studien des Instituts schienen die Studentinnen und Studenten in den 60er Jahren die Entwicklung zum Faschismus theoretisch in den Begriff zu bekommen. Hatte man autoritäres Verhalten als Herrschaftsmoment entschlüsselt, musste die antiautoritäre Rebellion ein Moment der Befreiung sein. Ein Motiv, das während der siebziger Jahre verstärkt in Marcuses Arbeiten entdeckt wurde, besonders in seinem Band Versuch über die Befreiung* (1969). Neben der gesellschaftlichen Analyse des nationalsozialistischen Systems und seiner ökonomischen Voraussetzungen galt die intellektuelle Anstrengung der Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung der Rekonstruktion der bis zur Unkenntlichkeit zerstückelten menschlichen Subjektivität. »Der Mangel an Rücksicht aufs Subjekt macht es der Verwaltung leicht. Man versetzt Volksgruppen in andere Breiten, schickt Individuen mit dem Stempel Jude in die Gaskammer«, resümieren Horkheimer und Adorno düster im Kapitel »Elemente des Antisemitismus« in der Dialektik der Aufklärung*.
Die Vernichtung der europäischen Juden und die Ermordung von Millionen anderer Menschen in den barbarischen Konzentrationslagern der Nazis stand und steht für die Möglichkeit der Barbarei und für den Zerfall der menschlichen Zivilisation. Danach kann kritisches Denken weder auf Vernunft- und Zivilisationskritik verzichten noch auf einen fortschrittlichen Geschichtsverlauf setzen.
Walter Benjamin war es, der in seinen Geschichtsphilosophischen Thesen* den Zivilisationsfortschritt an die Fähigkeit der Menschen band, sich der Opfer der Unfreiheit zu erinnern. Die Geschichte der Unterdrückten und deren missglückte Befreiungsversuche belehren uns darüber, so Benjamin, dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben – also Unfreiheit – die Regel ist.
Mit dieser Feststellung ist gleichzeitig ein gravierender Unterschied benannt, der sich nach dem Zerfall der Studentenbewegung in zahlreiche, um die richtige Ideologie konkurrierende kommunistische Organisationen einerseits und den »spontaneistischen und undogmatischen« Gruppen andererseits zeigte. Die kommunistischen Kaderparteien setzten auf einen quasi naturgesetzlich verbürgten Geschichtsverlauf, an dessen Ende der Kommunismus steht. Dafür musste Agitation am Werkstor betrieben werden, das proletarische Bewusstsein bloß »richtig« gelenkt werden. Dem »revolutionären Gesamtsubjekt« Proletariat standen die spontaneistischen Gruppierungen dagegen skeptisch gegenüber. Die politische Orientierung der spontaneistischen Bewegung galt der »bewusst gelebten Erfahrung« der handelnden Subjekte, sei es im Kampf um besetzte Häuser, um Besetzungen von Räumen an den Hochschulen oder bei Streiks für eine »lebensnahe Wissenschaft«. Nicht der kalte und verwissenschaftlichte Parteimarxismus, sondern die direkte politische Praxis, die sich in Aktionen im »hier und jetzt« ausdrückt, stand im Vordergrund. Daniel Cohn-Bendit, der wohl bekannteste Vertreter des spontaneistischen Flügels, brachte dieses Moment einer »rebellischen Subjektivität« im Vorwort zu seinem Buch Wir haben sie so geliebt, die Revolution* auf den Punkt: »Alles, was sich in der Welt ereignete, wurde im Licht der eigenen, gelebten Erfahrung interpretiert… Die radikale Sehnsucht nach Autonomie und Selbstbestimmung beflügelte das alltägliche Verhalten und begründete die sich ausbreitende Rebellion.«
In den Schriften der kritischen Theoretiker bleibt zusätzlich das Thema, das den Gründungskonsens der sich neu konstituierenden Bundesrepublik nicht stören durfte. Das Verschweigen des Massenmordes und das Verdrängen der Schuld wird zum systematischen Baustein der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Niemand wollte von der Vergangenheit etwas wissen, niemand sprach über das Leid der Opfer, schon gar keiner war im Land der Nazis ein Täter. Und schließlich war selbst der Antisemitismus mit der Ermordung der Juden nicht beendet. »Daß der Faschismus nachlebt; daß die viel zitierte Aufarbeitung der Vergangenheit bis heute nicht gelang und zu ihrem Zerrbild, dem leeren und kalten Vergessen, ausartete, rührt daher, daß die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigten«, schrieb Adorno 1959 in Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit*.
Hier unterschied sich auch der kommunistische Teil Deutschlands, die ehemalige DDR, überhaupt nicht von seinem kapitalistischen Pendant. Im real-existierenden Sozialismus war alles geklärt: als Neu-Kommunist war man nun plötzlich a priori Anti-Faschist und als Linker niemals Antisemit. Im kommunistischen Ostteil waren binnen weniger Jahre aus überzeugten Nationalsozialisten glühende Internationalisten geworden. Auch in zahlreichen westdeutschen linken Gruppen propagierte man die vereinfachende Formel: Wer links ist, ist kein Antisemit. Doch die gesellschaftliche Realität ist weitaus komplizierter. An diesem Punkt zerbrachen zu Recht einige politische Gruppen im Frankfurt der 70er und 80er Jahre.
Alle die hier nur kurz vorgestellten Arbeiten der kritischen Theoretiker blieben bis Mitte der achtziger Jahre für Teile der politisierten Studentinnen und Studenten an der Frankfurter Universität wichtige Diskussionsgrundlage. Eine bedeutende Rolle spielten ferner Günter Anders Die Antiquiertheit des Menschen* und für die Bewegung der siebziger Jahre die Arbeiten des einstigen SDS-Mitglieds und späteren Sozialpsychologen Peter Brückner.
Allerdings sind optimistische Illusionen über die Zahl und den Einfluss dieser Gruppen fehl am Platze. Gab es bis Anfang der siebziger noch relativ viele lose linke Gruppierungen, organisiert unter dem Dach des SDS, so wurden es bis 1972/73 immer weniger. Anfang der achtziger Jahre existierten kaum noch welche. An der Frankfurter Universität wurden von 1977 bis 1987 diese letzten Aktions- und Diskussionsgruppen über die undogmatische Sozialistische Hochschulinitiative (SHI) und deren Nachfolgegruppe, die Undogmatische Linke Liste zusammengehalten.
Distanz und Widersprüche zwischen der politischen Praxis der Jungen und den Analysen der »Alten«
Die rebellische Studentenbewegung der 60iger Jahre konnte die intellektuellen Debatten noch mit ihren theoretischen Vor-Denkern direkt ausfechten, mit Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse, sowie Ernst Bloch oder Jean Paul Sartre, um einige der alten kritischen Theoretiker zu nennen. Die öffentlichen Figuren des SDS wie Hans Jürgen Krahl – er starb 1969 bei einem Autounfall – und Rudi Dutschke, der bei einem Attentat 1968 schwer verletzt wurde und 1979 an den Spätfolgen starb, nutzten die Gelegenheiten, mit Adorno, Horkheimer, Marcuse oder Bloch zu diskutieren – wenn sie es ihnen ermöglichten. Rudi Dutschke und Ernst Bloch, Autor des Prinzips Hoffnung* verband gar eine tiefe Freundschaft. Mit »lieber Genosse Bloch« begann so mancher Brief an den »Alten«, wie ihn Dutschke nannte. Zwei Jahre vor Dutschkes Tod starb Bloch im hohen Alter von 92 Jahren in Tübingen. Herbert Marcuse hat Blochs Gedanken zur »konkreten Utopie« wie folgt interpretiert: »Blochs Idee der konkreten Utopie bezieht sich auf eine Gesellschaft, in der die Menschen es nicht mehr länger nötig haben, unter Bedingungen der Entfremdung ihr Leben als ein Mittel zur Erringung des Lebensunterhalts zu leben. Konkrete Utopie: Utopie, weil eine solche Gesellschaft bisher noch nirgendwo existiert; konkret, weil eine solche Gesellschaft eine reale historische Möglichkeit darstellt«.
Die hier erwähnten Denker sind in einem Atemzug genannt, obwohl in ihren Veröffentlichungen zum Teil große Unterschiede bestehen. Doch neben den (Früh-) Schriften von Karl Marx waren es ihre Arbeiten, die in den studentischen Gruppen diskutiert wurden. Was einen Teil der politisch aktiven Studenten daran interessierte, ist der Kem jeder kritischen Theorie: den emanzipatorischen Anspruch auf das Ende jeglicher Unterdrückung nicht aufzugeben. Um die Bruchstücke von Freiheit und Emanzipation auszugraben, muss das bestehende, unfreie Gesellschaftssystem radikal analysiert werden. Dahinter verbirgt sich der politische Imperativ der Kritischen Theorie: Befreiung Denken* (PEJ).
Die Arbeiten der kritischen Theoretiker wurden zwar gelesen, aber das Verhältnis der »Alten« gegenüber der politischen Praxis der Revoltierenden war distanziert. »Aktionismus ist regressiv« lautete das ablehnende Urteil Adornos auf die antiautoritäre Bewegung und dies obwohl zwischen Adorno und dem Frankfurter SDS seit 1967 ein intensiver Gedankenaustausch stattfand. Aber es passte einfach nicht zusammen, was sich dort an politischen Aktionen und hier an Ängsten zusammenfand. Im Jahre 1968 schließlich, der Pariser Mai war mit den Universitäts- und Betriebsbesetzungen sowie den riesigen, von der französischen Gewerkschaftsorganisation CGT organisierten Demonstrationen gerade vorüber, eskalierten die Konflikte zwischen den »Alten« und den rebellischen »Jungen«. Die Aktivisten des SDS Frankfurt, die wie die Bewegung insgesamt die militärischen Aktionen der Vereinigten Staaten gegen Vietnam heftig kritisierten, begannen mit Institutsbesetzungen. Davon blieb auch das Institut für Sozialforschung nicht verschont. Die Verantwortlichen des Instituts von Horkheimer und Adorno ließen das Institut von der Polizei gewaltsam räumen. Die Kritiker des »autoritären Staates« riefen nun selbst, ganz autoritär, nach den Ordnungshütern des Staates. Heftige Anfeindungen waren das Resultat. In einer Adorno Vorlesung sprangen plötzlich Studentinnen auf das Podium. Als Akt der Provokation entblößten sie vor den Zuhörern und vor Adornos Augen ihre Brüste. Verstört verließ dieser das Seminar. Doch diese Episode ist nur eine Facette von Konflikten zwischen den Theorievätern und den Praxiskindern.
Trotz dieser Zwischenfälle und trotz der heftigen Kritik am blinden Aktionismus der Bewegung, zeigten sich gegenseitige Sympathien. Besonders Herbert Marcuse und Ernst Bloch suchten regelrecht die Diskussion mit den Studenten. Die aktive Teilnahme an politischen Veranstaltungen verhalf den Auseinandersetzungen um das »bestehende falsche«, weil ausbeuterische, ungerechte und unmenschliche Gesellschaftssystem zu einem ansehnlichen intellektuellen Niveau. Selbst der skeptische Adorno sagte kurz vor seinem Tode in einem Interview, er halte das Gesamtniveau der Bewegung für außerordentlich hoch und beziehe dabei auch die ein, mit denen er der politischen Praxis wegen nicht einverstanden sei. Und Marcuse schrieb am 5. April 1969 an Adorno: »Wir können die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß diese Studenten von uns (und sicher nicht am wenigsten von Dir) beeinflußt wurden.« Für die erste Phase des SDS mag Marcuse recht haben. Doch einen ebenso großen Einfluss besaß seine, vor dreißig Jahren in deutscher Sprache erschienene Analyse der tendenziellen Entwicklung der spätkapitalistischen Gesellschaft: Der Eindimensionale Mensch*. »Ich würde sagen, das Buch war ein Schlüsselbuch und hat deshalb so viel Haß auf sich gezogen«, so bewertet der heute in Hannover lehrende Soziologe Detlev Claussen die Arbeit von 1964. Und es blieb ein Schlüsselbuch bis in die 80er Jahre hinein.
Mitte Juli 1967 nahm Marcuse, »der Kritische Theoretiker der Emanzipation« (H.J. Krahl) an einer Veranstaltung des SDS in Berlin teil. Er sprach über Das Ende der Utopie* und diskutierte Das Problem der Gewalt in der Opposition*. Im Mai 1968 solidarisierte er sich mit den Massenstreiks der Pariser Arbeiter und Studenten. Als die schwarze amerikanische Aktivisten Angela Davis wegen kommunistischer Propaganda 1972 in den USA verhaftet wurde und das Sozialistische Büro Offenbach – die damals größte parteiunabhängige Gruppierung der Neuen Linken in Deutschland – für sie einen Solidaritätskongress in Frankfurt veranstaltete, trat Herbert Marcuse als Redner auf. Schließlich, 1979, hielt er wenige Wochen vor seinem Tod in Frankfurt am Main den Vortrag Die Revolte der Lebenstriebe*. Auch zu dieser Zeit suchte Marcuse die Diskussionen mit den politisch aktiven Gruppen. Damals war es die Sozialistische Hochschulinitiative SHI. Das mehrere Stunden dauernde Gespräch wurde erstmals 1990 in ganzer Länge in Befreiung Denken – Ein politischer Imperativ* veröffentlicht.
Zu Beginn der 70er Jahre gründete sich die Gruppe »Revolutionärer Kampf« (RK). Als dessen Hochschulorganisation agierte die »Sozialistische Hochschulinitiative« (SHI). In Konkurrenz zu den Parteigruppierungen der Kommunisten sollte sie Studenten für linksradikale Politik der Betriebsarbeit und später für den Frankfurter »Häuserkampf‹ rekrutieren. Mitte der siebziger Jahre besetzten Studentinnen und Studenten in westlichen Stadtteilen zahlreiche alte Villen, die Großbanken als Spekulationsobjekte dienten und abgerissen werden sollten. Über mehrere Jahre hinweg dauerten die gewalttätigen Kämpfe zwischen Polizei und den Besetzern, die mit strategischen Tüfteleien immer wieder in andere Häuser einzogen und mit einfallsreichen Demonstrationen die Frankfurter Innenstadt als neuen öffentlichen Raum – im wahrsten Sinne – eroberten.
Daneben kristallisierten sich jedoch von Beginn an Ansätze zu einer anderen Politik an der Universität heraus. Es waren Versuche, themenbezogene Projektstudien zu betreiben und autonome Seminare zu einem Ort linker Theoriebildung und kritischer Berufsvorbereitung zu machen. Auf der institutionellen Ebene studentischer Hochschulpolitik, die von der gewählten studentischen Vertretung, dem sogenannten ASTA betrieben wurde, stand die Kritik an konservativen Hochschulreformen im Vordergrund. Ferner schoben sich neue gesellschaftliche Konflikte in den Mittelpunkt, die mit einem undogmatisch verstandenen Marxismus längst nicht mehr zu fassen waren. Dazu gehörten die feministische Bewegung, die Anti-Atomkraft- und Ökologiebewegung. Deren Themen und Krisenerfahrungen führten wieder zu den radikal fortschrittskritischen Texten der Kritischen Theorie zurück, wie der Dialektik der Aufklärung, dem Eindimensionalen Mensch und den Geschichtsphilosophischen Thesen.
Insgesamt kritisierten die studentischen Bewegungen der 70er und beginnenden 80er Jahre den revolutionären Gestus der 68er, die »Universität für den Klassenkampf« zu funktionalisieren. Diese Formel war ebenso leer wie die konservative Haltung, Wissenschaft und Technik diene dem Volk und dem Fortschritt. Bildung wurde außerdem bloß unter dem rein instrumentellen Blick der Verwertbarkeit gesehen. In der verschulten Massenuniversität stand technokratisches Kalkül vor emanzipativem Anspruch. Die Aneignung von lebensgeschichtlich bedeutungslosem Wissen und die schwindende Aussicht auf einen immer weniger ersehnten Beruf lösten Orientierungslosigkeit und Identitätskrisen aus. Außerdem konnte nach dem Zerfall der 68er-Bewegung man wurde Aussteiger, oder organisierte sich in parteikommunistischen Gruppen, andere suchten den bewaffneten Kampf bei der Roten Armee Fraktion (RAF) oder unterstützten sie – und mit den Erfahrungen des real-existierenden Sozialismus niemand mehr unbefangen einem blinden Revolutionsmythos hinterherlaufen.
In dem so entstandenen politischen Vakuum konstituierte sich eine von der Öffentlichkeit als »Spontibewegung« titulierte politische Praxis mit publikumswirksamen Spaß- und Politaktionen, die oftmals in narzisstischen Selbstdarstellungen mündeten. Ihrem Selbstverständnis nach war die SHI, die sich 1975 vom RK, abspaltete der hochschulpolitische Arm der Spontibewegung. Durch den Rückgriff auf Inhalte der Kritischen Theorie versuchte man, die Elemente Politik, Theorie und Emanzipation zu trennen. Gleichzeitig nahm die SHI die Kritik der Kritischen Theorie am Klassenkampfmodell der 30iger Jahre viel ernster als es die Bewegung 10 Jahre zuvor getan hatte.
Die Parole »Universität als Lebensgelände« fand in den Hochschulstreiks von 1977 und 1978 die erste praktische Umsetzung. Peter Brückner, der der SHI sehr verbunden war, schrieb: »Was wir suchen, sind Einsichten über einen möglichen Zusammenhang individueller Lebensgeschichte, der Geschichte der eigenen Gesellschaft und der immanenten Problemgeschichte der Wissenschaft, die man lehrt und studiert…« Peter Brückner erhielt im Zusammenhang mit einem politischen Nachruf auf den im April 1977 von der RAF ermordeten Generalbundesanwalt Buback Berufsverbot in Hannover. Göttinger Studenten hatten unter dem Pseudonym »Mescalero« einen Text verfasst, der gegen Staat und RAF gerichtet war. Der Mord wurde zwar nicht verurteilt, aber der bewaffnete Kampf als politisches Mittel abgelehnt. Die staatlichen Behörden verboten den Text. Einige Professoren, so auch Peter Brückner, waren der Meinung, der Text könne als Anlass dienen, an den Hochschulen über »Gewalt und Terrorismus« zu diskutieren. Brückner erhielt bis zu Beginn des Jahres 1982 Berufsverbot und durfte an keiner deutschen Universität mehr sprechen. Die SHI lud Brückner dennoch nach Frankfurt ein, wo er seine letzte öffentliche Rede hielt. Er starb im April 1982.
Durch die Unterbrechung und die Lähmung des universitären Alltags während der Streiks 1977/78 sollten die Möglichkeiten anderer Formen der Kommunikation, der Kritik, der politischen und intellektuellen Tätigkeit geschaffen werden. Eine der entscheidenden Voraussetzungen dafür war die souveräne Verfügung über Zeit und Räume in autonomen Zusammenhängen. Dies bedeutete einerseits, die Inhalte der Vorlesungen nach eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu gestalten und andererseits, dies in selbsteroberten und selbstgestalteten Räumen tun zu können.
Ein Meilenstein dieser neuen Inhalte war die Kritik an den patriarchalischen Geschlechterverhältnissen. Feministische Gruppen machten aus dem bis dahin unter den Marxisten als »Nebenwiderspruch« abgekanzelten Thema ein politisch relevantes Feld. Resultat war der erste und einzige Frauen-ASTA an einer europäischen Universität. Studentinnen aus der SHI führten die studentische Institution in den Jahren 1976 und 1977.
Wie bedeutend der Unterschied zwischen der 68er und der 77er Studentenbewegung in diesem Punkt war, mag folgende Episode aus 1968 belegen. Auf dem 23. Delegiertenkongress des SDS im September 1968 bewarfen die Frauen aus dem »Aktionsrat für die Befreiung der Frauen« die SDS Männer auf dem Podium mit Tomaten. Helke Sander aus dem Aktionsrat hielt eine beeindruckende Rede. »Wir können die gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen nicht individuell lösen, wir können damit nicht auf Zeiten nach der Revolution warten, da eine politisch-ökonomische Revolution die Verdrängung des Privatlebens nicht aufhebt, was in allen sozialistischen Ländern bewiesen ist.« Wenn die Männer des SDS diese Kritik nicht begreifen, dann, so Sander, sei der SDS nur »ein aufgeblasener Hefeteig«.
Die feministische Kritik war unter anderem ein Katalysator für das, was in SHI Zeiten als Politik der Differenz formuliert wurde. Dieses Politikmodell brach mit der Identifikation mit dem kollektiven, männlich dominierten proletarischen Subjekt der Geschichte. Die Politik der Differenz war weiterhin anti-zentralistisch – die Vorstellung eines gesellschaftlichen Zentrums lehnte sie ebenso ab wie den Anspruch, die Gesellschaft unmittelbar als ganze zu revolutionieren. Und sie war anti-rationalistisch, indem sie die Idee einer »objektiven Vernunft« der Geschichte verwarf. Stattdessen hielt man an den Konzeptionen eines offenen Prozesses fest. Hier wie später bei der Undogmatischen Linken UL wurde das prozesshafte, das Noch-Nicht (Ernst Bloch), die »Konkrete Utopie«, die Suche nach den emanzipatorischen Möglichkeiten im Hier und Jetzt bedeutend. Die Politisierung der Unterschiede, der Kampf um ein Recht auf Abweichung ohne Herrschaft und Ausgrenzung, die Formulierung von Emanzipationsansprüchen über ein hedonistisches Lebensgefühl, all das stürzte eben auch den proletarischen Revolutionsanspruch der späten 60iger und frühen 70er Jahre vom geschichtlichen Sockel. Neben dem über die Jahre hinweg aktuellen Marcuse-Buch Der eindimensionale Mensch*, wurde später immer häufiger über die Neue Sensibilität* oder Die Revolte der Lebenstriebe* diskutiert.
Gegenüber dem stark selbstdarstellerischen geprägten Politikbegriff der SHI setzte die Undogmatische Linke (UL), die 1983 deren Nachfolge an der Frankfurter Universität antrat, auf ein Wechselverhältnis. Universitäre Öffentlichkeit sollte neu strukturiert werden. Die Organisation von Diskussionen gesellschaftlicher Themen als autonomes universitäres Zusatzangebot war ihr Anliegen. Weder das revolutionäre »alles oder nichts« wie 68, noch die am Ende theorieleere »Politik in der ersten Person« von 1977, bestimmte das politische Selbstverständnis der UL. Slogans wie »Campari & Habermas« oder »das Risiko liegt im Prinzip seiner Anwendung« forderten einen wesentlich strategischeren Umgang mit Wissenschaft und eigener studentischer Rolle. Die Möglichkeiten des handlungsentlastenden Diskurses wie sie die Universität durchaus bietet, nahm man hier viel ernster, als es die politischen Vorgänger getan hatten. Dies war die eine Seite der politischen Bemühungen der Undogmatischen Linken. Doch entscheidenden Einfluss auf die SHI und UL hatten bereits die sozialen Bewegungen außerhalb der Universität. Studentische Politik wirkte nicht mehr in die Stadt und die Gesellschaft, sondern umgekehrt die sozialen Bewegungen wie Ökologie-, Anti-Atomenergie und Friedensbewegung in die Universität.
Speziell in Frankfurt wurde die Politik an der Universität von den schweren Auseinandersetzungen und Kämpfen gegen das Großbauprojekt Startbahn West dominiert. Zum Teil verlagerten sich Vorlesungen aus der Universität in das sogenannte Hüttendorf. Weite Teile des Baugeländes wurden besetzt und ein Dorf aus Holzhütten gebaut, indem zeitweise bis zu 500 Menschen lebten. Professoren hielten Vorlesungen, Studenten trafen sich dort zum Studium.
Ökologische Verantwortung bei Großbauprojekten, der Gebrauch unkalkulierbarer Technologien wie der Atomenergie oder die politischen Rahmenbedingungen und die ethischen Aspekte waren nun die Themen. In diesen Jahren erfuhren die Schriften von Marcuse, von Günter Anders, der unter seinem richtigen Namen Günter Stern mit Hannah Arendt verheiratet war, eine Renaissance. Günter Anders Die Antiquiertheit des Menschen* wurde im Zusammenhang mit den Gefahren und der Unbeherrschbarkeit der neuen Technologien intensiv diskutiert.
Diese Ansätze für die politische Arbeit der UL flackerten nochmals kurz auf, als im Jahr 1986 das damals noch sowjetische, heute ukrainische Atomkraftwerk Tschernobyl explodierte. Allerdings konnte schon in dieser Zeit nicht mehr von einer einflussreichen politischen Gruppe die Rede sein. Was zu dieser Zeit die Politik an der Frankfurter Universität noch zusammenhielt, waren einzelne Individuen, die ein gesellschaftlicher Konflikt zusammenbrachte. Die letzte große politische Auseinandersetzung, die an der Frankfurter Universität von einer undogmatisch linken, spontaneistischen und sich in der Tradition der Kritischen Theorie begreifenden politischen Gruppe geführt wurde, war 1987. Die revisionistischen Umdeutungsprozesse der deutschen Geschichte in Verbindung mit dem Naziregime, die als Historikerstreit bekannt wurden, führten die bereits aufgelöste UL erneut als Gruppe zusammen. Rechte Denker und konservative Politiker attackierten in dieser Debatte besonders den in Frankfurt lehrenden Philosophen Jürgen Habermas. Er hatte als erster die reaktionären Tendenzen der »neuen Rechten« öffentlich attackiert. Über ein gesamtes Semester hinweg führte die UL an der Frankfurter Universität Diskussions- und Filmveranstaltungen zum Thema »Deutsche Geschichte und Identität« durch.
Seit 1987 ist keine politische Gruppierung an der Frankfurter Universität in der hier dargestellten politischen Tradition aktiv. Mittlerweile dominieren studentische Gruppen von bundesrepublikanischen Parteien die politische Bühne. Dazu gehören der Ring Christlich Demokratischer Studenten (RCDS), der eng an der CDU orientiert ist, die Jungsozialisten an der Hochschule (Juso HG), die zur SPD gehören und die studentische Vertretung der Partei der Grünen. Daneben agieren noch einige parteiunabhängige Hochschulgruppen, die im linksradikalen, rechts-konservativen bis rechtsradikalen oder gar neonazistischen Spektrum zu finden sind.
PS: Der realexistierende Sozialismus ist eben auch daran gescheitert. Ihm fehlte diese verträumte Stille und ließ die Entfaltung kreativer und eigenständiger Individuen nicht zu. Mir hat das immer gefehlt an diesem verknöcherten Dogmatismus der Kommunisten. (PEJ)