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Eine Flasche mit dem Gesicht Adornos

»Von früh auf will man zu sich. Aber wir wissen nicht, wer wir sind. Nur dass keiner ist, was er sein möchte oder könnte, scheint klar. Von daher der gemeine Neid, nämlich auf diejenigen, die zu haben, ja zu sein scheinen, was einem zukommt. Von daher aber auch die Lust, Neues zu beginnen, das mit uns selbst anfängt.«1

Zum Einstieg und was die Flaschenpost sei

Adorno sah seine Philosophie als eine Flaschenpost im Meer, derer sich Menschen in Zufälligkeit annehmen, um sie zu realisieren. Was wie eine Floskel scheint, hat eine tiefere Bedeutung in seinem Wirken. Die Veränderung bedarf nicht nur einer Verwirklichung des Möglichen, wie Ernst Bloch argumentiert.2 Sie muss aus der Erkenntnis des Menschen selbst kommen. Eine Transformation des Systems ist nicht notwendig, gar unmöglich, weil die Entwicklung gesellschaftlich konstituiert wird und von sich selbst aus in einer neuen Welt mündet. 

Doch der Einzelne sieht sich aufgerufen, als freier Mensch mit eigener Entscheidungsmacht zu handeln. Immanuel Kant argumentierte mit einer Vereinigung von Freiheit und Notwendigkeit.3 Hieraus leitet sich eine Freiheit ab, die als notwendige Bestimmung des Menschen realisiert werden muss. Dabei ist nicht nur die Abwendung von Unheil notwendig, sondern auch dessen Existenz für die Realisation des Guten. 

Eine konkrete Bestimmung des Guten lehnten die Frankfurter ab, weil der Mensch seinen Blick vielmehr indirekt auf jenes richten sollte, das verneint werden muss. In der bestimmten Verneinung des Negativen sah die Frankfurter Schule indirekt das Positive aufschimmern. Die mögliche Welt liegt nur darin noch offen, dass die Tendenzen in der realen Welt ihrer eigenen Abschaffung bedürfen. 

Das In-Möglichkeit-Seiende des Ernst Bloch ist stets das Reich der Freiheit des Karl Marx, mit dem die geheime Utopie im Vernunftbegriff in der Dialektik der Aufklärung beschrieben wird.4 Das Hauptwerk der Kritischen Theorie sollte nicht nur repressive Herrschaftsmechanismen aufdecken, vielmehr noch den Faschismus des 20. Jahrhunderts erklären. Eine heutige Welt, die sich den Mechanismen und Entwicklungen des vorherigen Jahrhunderts annähert, bedarf der Utopie ebenso wie der stillen Flaschenpost einiger Denker, die dort noch Glück realisieren, weil sie das Unglück aussprechen. 

Bloch dachte die Welt, wie sie im argen liegt, in ihrer Unfertigkeit als stetiges Experiment. So ist die Flaschenpost der Frankfurter Philosophen selbst noch unfertig, unabgegolten und bedarf eines Empfängers. In Tagträumen aus der Studentenkammer empfangen Einzelne die Flaschenpost der Kritischen Theorie, um damit weiterzudenken und die jetzige Situation der Gesellschaft zu interpretieren. Der Mensch ist ein ebenso experimentierendes Wesen wie die Gesellschaft in die Zukunft irrt. In diesem Wissen ist der Zwang zum Guten weniger präsent, womit dem Guten die Gerechtigkeit widerfährt, die es benötigt, um in reale Handlungen umzuschlagen. Darin liegt eine Hoffnung der möglichen Welt aufgehoben, die nicht konkret bestimmt werden muss. Stattdessen ist es das Bewusstsein der Menschen, welches Fahrt aufnehmen und zum Ziel gelangen muss.

Im Wissen, dass nicht jeden Menschen die Erkenntnis erreichen würde, streuten Horkheimer und Adorno die Flaschenpost einer unabgegoltenen Hoffnung in die Welt, deren Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft wurden. 

Im Folgenden soll aus Fragmenten das alltägliche Bild der Überlegungen zu Möglichkeit, Wirklichkeit, Zukunft und Utopie herausgearbeitet werden. Die Entwicklung von einer realen Wirklichkeit zur utopischen Möglichkeit ist dabei chronologisches Programm. 

Hatte Nietzsche recht?

Der Tag neigt sich dem Ende und alle tun so, als wäre es das auch. Doch nach langer Überlegung schleicht sich etwas in die Ahnung davon, wie sich alles wiederholt. Und natürlicher wird es nicht mehr. 

Hinter dem Mond

Was du täglich erfährst, entlädt seine Macht in den Wünschen, die du im Morgen manifestierst. Ein jener kennt das Gefühl, abgeschnitten zu sein. Dagegen hilft so wenig der Konsum der Wünsche wie deren Erfüllung. 

Grau

Vielleicht auch in der grauen Anlage sitzend, träumt der alte Greis von vergangenen Zeiten, die er sich langsam sehnlich herbeiwünscht. Man hört seine Stimme aus tiefem Ohr und denkt, er klinge schon wie ein Kind, dass seine Milch verlor. Leise Schreie, die in tiefer Nacht ertönen, reißen ihn aus seinem Schlaf. Er träumte es nur, wie auch gerne sonst immer von der guten alten Zeit. Sie bleibt eine Illusion. 

Adleraugen

Einst kommt der Gedanke auf, wie die Industrie uns wohl betrachten mag. Sie hat dieses Lächeln auf der Brust, dass keiner besser erkennen kann, als wir. Und doch scheint sie uns zu betrügen. Aber es scheint nur so. 

Vergiss mein nicht

Was wie ein heiterer Abend aussieht, kann schnell zu einem törichten Gelage wütender Protestbürger kippen. 

Im Ärger der Menschen erschleicht sich der Faschismus langsam das Ticket, das für alle so attraktiv scheint, wie der abendliche Gang in die Festhalle. 

Früher standen die Juden auf dem Ticket. Heute kann es anders sein, eine neue Gruppe. Die Möglichkeit der Verschiebung droht. Der Faschismus ist psychologisch begründbar, wie Erich Fromm in der Furcht vor der Freiheit analysierte. Feste und Feiern mutieren zum Ritual der Massen, wo der Faschismus das warme Nest erwartet, um ihn schon bald zu legitimieren. Das Ticket vergisst nicht nur die Vergangenheit des Faschismus, sondern auch ganz schnell eure Freiheit. Das einfache Vergiss mein nicht der Vergangenheit bewahrt die Hoffnung der Zukunft. 

Aura

Die Erkenntnis im Rückblick erzeugt Weisheit in Weitsicht. Tiefe Gedanken an das Falsche in der Vergangenheit bahnen sich ihren Weg, wenn gerade niemand zum Reden parat ist. Jene abschweifenden Gedanken im Café, entlarven ihre Wahrheit darin, dass der Rückblickende auch immer ein Vorausschauender ist. In melancholischer Reflexion des Verlorenen erhascht er etwas von dem, was ihm in Zukunft von Nutzen sein wird. 

Bios theoretikos

Was Aristoteles genau meinte, außer in der ruhigen Betrachtung dem glücklichen Leben zu folgen, kam nicht heraus. Es gesellt sich ein Begriff des Lebens dazu, der stets schöpferisch die Welt gestaltet. Der Gang aus Platons Höhle ist schwer. Im schöpferischen Tun wird er gewiss erleichtert und Aristoteles lächelt ein wenig, wenn er zur Sonne des Guten gelangt, die Platon niemals aus der Gesellschaft vertrieb.

Utopia

Konstruktionen von Thomas Morus, Tommaso Campanella oder Francis Bacon erhellen den Nachthimmel, während sie ihn gleichzeitig wieder verdunkeln. In der Aussprache der Utopie und ihrer konkreten Darstellung wird das Kreative entfacht, zugleich aber auch erloschen. Die Farbe kommt stets aus dem Noch-Nicht der Wirklichkeit. Durch konkrete Utopie-Entwürfe wird das Noch-Nicht schon in ein Jetzt versetzt, dass es noch nicht beanspruchen kann. In der Ferne zur Utopie liegt ihre Verwirklichung. 

Benjamins Begriff der Geschichte

In Walter Benjamins Thesen wohnt der Angelus Novus. Den Sturm des Fortschritts wahrnehmen, während der Berg von Trümmern abgetragen wird, erscheint unmöglich. Doch der Engel der Geschichte kann sich im Moment des Augenblicks retten, den Menschen bisweilen zu vergessen drohen. Das Gegebene der Katastrophe kann nur im Augenblick der Wahrnehmung gerettet werden. Was Benjamin mit der Aura beschreibt, findet sich im Flow-Erlebnis der Moderne wieder. Es ist die Negation des Bestehenden, indem es in der Gegenwart der Trümmer verweilt und gleichzeitig Neues erschafft. 

»Es lebte nichts, wenn es nicht hoffte«5

Was Hölderlin im Hyperion formuliert, bricht aus dem Alltag heraus als Plädoyer der Lebendigkeit. Es muss hoffen, um zu leben. Ein Gedanke, der von Ernst Bloch nicht abgelehnt wurde. So ermuntern wir uns erst in der Freude und Hoffnung auf Besseres, leben mitunter erst dadurch. Ein jegliches Leben ohne das Hoffen wäre ein »Über-leben«. Es schießt über das Leben selbst hinaus. »Zurück zur Natur!« im Krieg aller gegen alle ist keine Lösung, vielmehr wäre es der Exodus. Was Hölderlin festhielt, ist so romantisch wie die Kraft der Liebe bei Adorno. Nur der liebt, wer die Kraft hat, an der Liebe festzuhalten.6 Mit Hölderlin umformuliert: Nur der hofft, wer die Kraft hat, an der Hoffnung festzuhalten. Nur darin wird das Experiment der Zukunft, das Experiment Welt, zu einem Möglichen.7


 

  • \ \ \ 1

    Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 1973, S. 1098.

  • \ \ \ 2

    Bloch, Ernst. Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1973, S. 284-288. 

  • \ \ \ 3

    Kant, Immanuel. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hrsg.: Wilhelm Weischedel. Werkausgabe VII. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2020 (10. Aufl.), S. 93-99. 

  • \ \ \ 4

    Adorno, Theodor W. und Max Horkheimer. Gesammelte Schriften, Bd. 3: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Hrsg.: Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, S. 140. 

  • \ \ \ 5

    Hölderlin, Friedrich. Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Stuttgart: Reclam, 2017, S. 29. 

  • \ \ \ 6

    Adorno, Theodor W. Gesammelte Schriften, Bd. 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Hrsg.: Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, S. 195. 

  • \ \ \ 7

    Bloch, Ernst. Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1977, S. 299.