Rausch – Gold – Engel
Weihnachten steht vor der Tür und damit auch eine Zeit des Rausches. Unser Gastautor Sacha Szabo geht diesem gesellschaftlichen Phänomen popsoziologisch auf den Grund.
Rausch
Angesichts der bevorstehenden Weihnachtstage bietet sich an, die Potenziale des Rauschs an einem emblematischen Objekt zu entfalten: dem Rauschgoldengel. Zerlegt man diesen in seine Elemente – womit hier die Wortteile gemeint sind –, erhält man einen Schlüssel zum rauschhaften Wesen der Weihnacht: Rausch – Gold – Engel. Diese drei Aspekte strukturieren auch diesen Text: Rausch als Bestreben, das Diesseits zu bewältigen; Gold als Metapher, schenkend in ein Jenseits zu transzendieren; und Engel – lassen Sie sich überraschen.
Doch zuerst: Was ist ein Rauschgoldengel? Er ist ein traditioneller Nürnberger Weihnachtsschmuck, eine aus Holz gefertigte, teils mit Wachs oder Porzellan ergänzte, puppenartige Engelsfigur. Der Name leitet sich von dünn gewalztem Messing – dem namensgebenden »Rauschgold« – ab, aus dem seine Flügel gearbeitet wurden. Zum Rauschgoldengel findet sich auf der Seite der »Weinkellerei Hechtsheim« folgende Legende: »Ein geschickter Nürnberger Handwerksmeister soll vor vielen hundert Jahren das erste Exemplar des Rauschgoldengels geschaffen haben – als Ebenbild seiner geliebten Tochter. Nachts sei ihm sein Kind als Engel im Traum erschienen, in einem Gewand aus Gold, Samt und Seide. Tags darauf hielt der Vater diese lebendige Erinnerung fest«.
Weiter wird auf der Seite ausgeführt: »Holen Sie den Flair des Nürnberger Christkindlesmarktes zu sich nach Hause, zu zweit vor dem Kamin, in geselliger Runde beim Wintergrillen oder Après-Ski oder für die private Weihnachtsparty.«
Diese obige Legende, wurde in den fünfziger Jahren von Annie M. Rossbacher erfunden und gehört als Ursprungsmythos inzwischen zur Festfolklore. Dieser Mythos wird im zweiten Abschnitt mit dem auf der Seite beworbenen Glühwein in Beziehung gesetzt und auf diese Weise semantisch ausgebreitet. Der Rausch, der ursprünglich in der Materialität der Engelsflügel lag, den der Engel nur symbolisch versprach, wird nun als »Rauschgold-Engel Glühwein« körperlich erlebbar. Und verbindet sich zu einem Getränk, das ein traditioneller Bestandteil der vorweihnachtlichen Einstimmung ist. Als erhitzter Würzwein, dessen Farbe und Wärme an das Blut Christi erinnern, lässt der Glühwein auf den Weihnachtsmärkten eine profane communitas entstehen – ein Erlebnis, das sich durch die Ersetzung körperlicher Erlebnisse durch symbolische Handlungen aus der Kirche auf den Kirchvorplatz verlagert hat, dorthin, wo viele Weihnachtsmärkte ihren Ort gefunden haben.
Im Unterschied zu antiken Würzweinen, die – ähnlich wie früher Bier – mit psychoaktiven Stoffen versetzt wurden, entfaltet der Glühwein seine Wirkung allein durch Alkohol und Zucker und stößt damit eine Pforte zu einem außeralltäglichen Erlebnis auf, das Aldo Legnaro in Soziologie des Rausches wie folgend charakterisiert:
»Bei einer solchen Erfahrung schwindet die Trennung zwischen Erfahrendem und dem Erfahrenen, und die All-Einheit der Welt verifiziert sich im Akt des Erfahrens. Subjekt und Objekt verschmelzen. Ich und Du enthüllen sich als verschiedene Aspekte der gleichen Wirklichkeit. Das ist, so berichten diejenigen, die solche peak experiences gemacht haben, immer wieder eine Erfahrung ekstatischer Glückseligkeit, die ihren Sinn in sich selbst trägt, die Bedeutung der Welt offenbart, alles in ein Licht rückt, von dem der Erfahrende intuitiv weiß, dass es die ›Soheit‘ der Welt erhellt.« (Legnaro 2000: 41).
Legnaro hebt hervor, dass Rausch weder ein Transzendieren in ein rein spirituelles Jenseits noch ein eskapistisches Ausblenden der konkreten Diesseitigkeit ist, sondern: »Sozial vermittelte Raster der Wahrnehmung werden aufgelöst und auf andere, unter günstigen Umständen auf schöpferische Weise neu organisiert.« (Legnaro 2000: 39).
Wie Legnaro, schreiben auch Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem Werk »Tausend Plateaus« dieser Qualität des Rauschs das Potenzial zu, etablierte Strukturen aufzulösen. Für Deleuze/Guattari ist jedes Subjekt »territorialisiert«, in stabile Strukturen eingebunden; zugleich drängt ein Begehren danach, diese Strukturen zu überschreiben, aufzulösen, zu »deterritorialisieren« und entlang von »Fluchtlinien« neue, produktive Verbindungen herzustellen. Dieser Prozess gründet in der Dynamik der kapitalistischen »Gesellschaftsmaschine« (Deleuze/Guattari 1993), die zunächst dazu antreibt, dass aus dem Begehren freigesetzte Fluchtlinien deterritorialisieren – allerdings innerhalb des Kapitalismus. –, sodass Wunschströme bis an die Grenzen des Systems drängen, um dann dort in eine Warenform »reterritorialisiert« zu werden.
Legt man dieses Geflecht über den Rauschgoldengel, zeigt sich, wie ein im Vorkapitalismus entstandenes Objekt de- und anschließend reterritorialisiert wird. Konkret: Der Rauschgoldengel wird zunächst aus seinem religiös-spirituellen Kontext herausgelöst und umgedeutet, indem er durch einen frei erfundenen Mythos zu einem glaubwürdigen, volkstümlichen Fetisch wird. Anschließend wird er als Marke auf einen Glühwein übertragen und verwandelt auf diese Weise den Rausch bildlich in Gold – in eine konsumierbare Ware. Das Rauschmittel, das versprach, das System zu transzendieren, ist nun Teil des Systems.
Gold
Wenn es im Kapitalismus also keine Rauschmittel gibt, die aus ihm herausführen, könnte man ihn selbst als Rauschmittel nutzen, um ihn zu überwinden. Folgt man diesem accelerationistischen Gedanken, darf der Kapitalismus nicht auf sich rekurrieren, vielmehr muss er sich in einem transgressiven Akt selbst überschreiten. Dies lässt sich am weihnachtlichen Schenken gut aufzeigen.
Denn Rausch ist an Weihnachten nicht nur als alkoholischer Glühwein präsent, sondern auch in vielen weiteren Formen: im opulenten Essen – der ursprünglichsten Weise, die Trennung zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu überwinden und sich die Welt einzuverleiben. Oder in den bunten, glitzernden Lichtern, die an Aldous Huxleys Mescalin-Rausch erinnern, in dem er die empfundene Buntheit als Vision des himmlischen Jerusalems beschreibt (Huxley 1970).
Selbst das Soziale in Form der familiären Zusammenkunft kann an diesen Tagen – im Zusammenspiel mit dem beim Festmahl gereichten Alkohol – zu einem überwältigenden Rauscherlebnis werden, in dem sich Merkmale des von Manfred Müller-Küppers beschriebenen Alkoholrausches entdecken lassen: »Zunächst kommt es zu einer erhöhten Helligkeit des Bewußtseins, der dann eine leichte Benommenheit folgt. […] Sie wird von dem Trinker und seinen Mittrinkern ebenso getragen, wie von der allgemeinen stimmungsmäßigen Gehobenheit und der allgemeinen Lachbereitschaft. […] [Der] Alkoholisierte [kann] bald heiter lärmen, bald in Tränen zerfließen und sein verpfuschtes Leben bereuen«. (Müller-Küppers 1999: 120ff.).
Und schließlich zeigt sich ein besonderer Rausch im Schenken und in den Geschenken, die sowohl in der Vorbereitung als auch bei der Bescherung Momente rauschhaften Kontrollverlusts hervorrufen können. Gerne wird die Kommerzialisierung der Weihnacht beklagt, die insbesondere an den Geschenken festgemacht wird. Doch Geschenke als verdinglichten Fetisch zu deuten, hieße, sie allein nach ihrer Wertform zu beurteilen. Geschieht das, tritt ein, was der Serien-Charakter Sheldon Cooper aus »The Big Bang Theory« als »Geschenkhypothese« formulierte: dass nämlich jedes Geschenk ein entsprechend wertiges Äquivalent einfordert – nur ist dies dann kein Geschenk mehr, sondern ein Warentausch.
Vielmehr ist das Schenken jedoch eine Überschreitung dieser Reziprozitätsnorm, ein Weggeben, ein bewusstes Hergeben oder Aufgeben. In diesem Akt zeigt sich für Georges Bataille – der sein Konzept der Verschwendung an Marcel Mauss’ Arbeit anlehnt – die Verschwendung und die Vernichtung von Werten als Ursprung des Opfers und Akt der Transgression.
Schenken ist vor diesem Hintergrund kein Mehrwert heckender Vorgang, sondern transzendiert im Akt des selbstlosen Hergebens ein auf Nützlichkeit und Besitz gegründetes Leben. Batailles Konzept eines transgressiven Rauschs steht dabei Deleuze/Guattaris Vorstellung des Rauschs, der innerhalb der Grenzen des Systems verbleibt, komplementär entgegen. Auf der Suche nach eine Möglichkeit, wie sich dieser Konflikt lösen ließe, lohnt sich vielleicht ein Blick auf die Geschenkboten der Weihnachtszeit.
Das weihnachtliche Schenken gründet, so die gängigen Theorien, auf den Gaben der Heiligen Drei Könige, die dem Kind Jesus in Bethlehem Gold als Symbol der Königswürde, Weihrauch als Sinnbild der göttlichen Natur und Myrrhe als Bestandteil des Salböls und Zeichen des Todes übergaben.
Engel
Neben den drei Königen gibt es eine Reihe weiterer weihnachtlicher Geschenküberbringer: Nikolaus, Santa Claus, den Weihnachtsmann, das Christkind und einen, der mit dem Rauschgoldengel in einem engen Verwandtschaftsverhältnis steht – den Weihnachtsengel.
Er leitet eine ungewöhnliche Zeitspanne ein, die als »zwischen den Jahren« bezeichnet wird. Diese Phase zwischen Heiligabend und Dreikönig ist als »Rauhnächte« bekannt, in der eine besondere Nähe zwischen dem Diesseits und dem Jenseits bestehen soll. Es ist ein Zeitraum, zu lang, um ihn zu verschlafen, zu kurz, um etwas Neues zu beginnen. Im Bayerischen findet er als »Staade Zeit«, als stille Zeit, seine passende Bezeichnung – eine Zeit, in der alles stillzustehen scheint, sogar die Zeit selbst.
Um hier Deleuze/Guattaris Begrifflichkeit aufzugreifen: Diese Zwischenzeit deterritorialisiert die gewohnten Ordnungen. Folgt man den Überlegungen Hakim Beys (Peter Lamborn Wilson), sind Engel Zwischenwesen, die weder dem Diesseits noch dem Jenseits zugehörig sind, weder göttlich noch menschlich. Sie verbinden vielmehr die unterschiedlichen Sphären und bevölkern deren Zwischenraum, der über eine eigene Zeitstruktur verfügt – die Zwischenzeit.
Und diese Zwischenzeit ist ein Merkmal des Rauschs, in der sich Zeitachsen verzerren und oder in scheinbar ewiger Erlebnisgegenwart aufgehen. So schreibt Aldo Legnaro: »Immer wiederkehrend in Berichten über Drogenerfahrungen ist die Beobachtung der Relativität der Zeit. Wird unser Alltag strukturiert von einer physikalischen Zeit, die sich außerhalb unserer Bedürfnisse als soziale Zeit objektiviert, so spielt sich die Drogenerfahrung in ihrer eigenen Zeit – oder Zeitlosigkeit – ab.« (Legnaro 2000: 37)
Der Rauschgoldengel zeigt, dass Rausch, zwischen kapitalistischer Reterritorialisierung und transgressiver Deterritorialisierung taumelnd, als Grenzerfahrung das »Zwischen« als »sein« Territorium durchdringt. Dieser Rausch ist eine immanente Transgression – keine Transzendenz hin zu etwas Jenseitigem, kein Regress ins Diesseitige, vielmehr eine Grenzerfahrung: ein Ein- und Abtauchen in die Grenze selbst, die in der Ethnologie als Liminalität beschrieben wird.
Immanente Transgression bedeutet in letzter Konsequenz, dass sich das Individuum an sich selbst berauscht; sie ist, was mit Deleuze/Guattari als »Werden« bezeichnet werden könnte und bei Hakim Bey im Begriff des ontologischen Anarchismus seinen Ausdruck findet. Eine Seinsweise, die im »Hier und Jetzt« in einem Zustand veränderter, rauschhafter Wahrnehmung die gewohnte Ordnung – und damit sowohl die diesseitigen als auch die jenseitigen Machtverhältnisse – zeitweilig als »Temporäre Autonome Zonen« außer Kraft setzt.
Eben das macht es so schwer, für andere nachvollziehbar über Rauscherfahrung zu sprechen, da jedes Erleben ein singuläres ist und an die Stelle einer sozial konstruierten Wirklichkeit eine individuell konstruierte tritt. Und darin liegt ihre Bedrohlichkeit, denn – wie Deleuze/Guattari immer wieder betonen – erzeugt die dauerhafte territorialen Überschreitung Chaos; da mit lauter Singularitäten einfach kein Staat zu machen ist. So erweist sich – entgegen massenpsychologischen Vorbehalten – eine berauschte Masse als eine Vielzahl unterschiedlicher Individuen, die jeweils ein eigenes Rauscherleben haben – oder, wie die Soziologin Victoria Stefanou ein Techno-Event als soziales Gegenkonzept charakterisierte – als ein »Zusammen alleine«.