Rastlose Utopien
Die Autobahn als Vermittlungsinstanz kapitalistischer Verhältnisse
»Der reißende Strom wird gewalttätig genannt, aber das Flussbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig.« – Bertolt Brecht1
Der heutige Alltag ist weitestgehend in Infrastrukturnetzwerke eingebunden und wird durch diese geformt. Infrastrukturen, auch großtechnische Systeme genannt, sind sozio-materielle Netzwerke aus unterschiedlichen Bestandteilen, die der menschlichen Kontrolle über Ressourcen, wie Wasser oder Elektrizität, dienen. Sie treten somit als notwendige Vermittlungsinstanz zwischen Mensch und Natur.2 Ich will mich in diesem Beitrag damit auseinandersetzen inwiefern innerhalb dieser produzierten und aufrechterhaltenen Notwendigkeit Lücken für utopische Momente zu finden bzw. zu ergreifen sind. Dies will ich anhand einer Infrastruktur tun, welche eng an Diskussionen des Klimawandels gebunden ist, aber viel seltener in ihrer vollen gesellschaftlichen Komplexität beobachtet und kritisiert wird – es geht um Autobahnen.
Autobahnen als Infrastrukturen
Autobahnen sind zuallererst Teil der Straßeninfrastruktur. Grob zusammengefasst dienen Straßen der organisierten, physischen Bewegung – dem Verkehr auf (Asphalt)Bahnen. Unterschiedliche Narrative in Filmen zeigen aber auch, dass mehr zur Straße gehört als nur ihre Materialität. So symbolisiert etwa die »Yellow Brick Road« in »der Zauberer von Oz« einen Übergang aus der Great Depression in die strahlende Emerald City oder die noch bestehenden Highways der »Mad Max« Filme das penetrante Fortbestehen eines fossilen Autokults.3 Ihre ultimative Gestalt erhalten Straßen jedoch in der Form der Autobahnen. Als abgetrenntes, nahezu autonomes großtechnisches System scheint diese Straße nur dem zu dienen, wozu Straßen eben dienen sollen: der beständigen Zirkulation von Menschen und Waren. Wie Mad Max und weitere Filme oder Lieder verdeutlichen, sind jene massiven Bauwerke wohl kaum aus dem kollektiven Gedächtnis von Gesellschaften zu entfernen. Dabei handelt es sich bei Autobahnen um ein recht junges Phänomen.
Entworfen wurden sie in Italien des frühen 20. Jahrhunderts, materiell realisiert und doch menschenleer existierten sie im dritten Reich und wurden dann im Verlauf der 60er Jahre durch Nutzer*innen bevölkert. Während die Autobahn so für Michael Makropulous4 ein zentrales Element für die Erschaffung der deutschen »Volksgemeinschaft« war, wurde und wird sie mittlerweile auf dem gesamten Globus ausgebreitet.5 Sie diente und dient der Auflösung »tradierter sozialräumlicher Identitäten« und der »funktionalen Verdichtung des Sozialen durch individuelle Bewegung«. Somit spielt sie eine entscheidende Rolle für die Formation und Aufrechterhaltung nationalstaatlicher Identitäten. Als Beispiel lässt sich hier die Eröffnungsfeier des milliardenschweren A2-Projekts in Polen nennen. Während dieser Veranstaltung wurde die A2 vom damaligen polnischen Präsidenten Bronisław Komorowski als eine »Autobahn der Freiheit« bezeichnet und vom ebenfalls anwesenden damaligen deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck mit dem Ende des realexistierenden Kommunismus verglichen.<a class=«footnote__citation js-footnote-citation« id=«footnoteref6_konys-2vFuxF0V8DYnggIlNlsPPXFpeuJ4ayByHM_uWHtWWVeiXfi« title=«Kuligowski, Waldemar (2019): How »Poland Entered Europe”. In: Transfers 9 (1), S. 1–19.« href=«#footnote6_konys-2vFuxF0V8DYnggIlNlsPPXFpeuJ4ayByHM_uWHtWWVeiXfi«>6
Der »zivilisatorische« (oder koloniale) Anspruch der Autobahn vollzieht sich jedoch nicht allein auf einer ideologischen Ebene, sondern ist eng verzahnt mit dem globalen Kapitalismus und der Reproduktion von Gesellschaftsverhältnissen. Konzerne, Staaten(verbände) und Banken erweitern eine just-in-time Produktion für Konsumgesellschaften, indem sie sich jenen Infrastrukturen und des dazugehörigen Logistik-Proletariats ermächtigen. Finanz- und Staatsakteur*innen haben besonders bei der Errichtung und Instandhaltung der materiellen Elemente von Autobahninfrastrukturen ein leichtes Spiel. Aufgrund der massiven Kosten von Autobahnprojekten händigen Staatenverbände und Entwicklungsbanken, wie jene der Europäischen Union, häufig Kredite an andere Staaten aus. Diese Kredite binden die Staaten nicht nur als finanzielle Schuldner an die EU, sondern auch als politische, da solche Kredite häufig mit Forderungen für Gesetzesänderungen verbunden sind.7 Die fertiggestellten Autobahnen Westeuropas werden zudem immer häufiger von migrantischen LKW-Fahrenden in prekären Arbeitsverhältnissen befahren.8 Die angepriesene Freiheit der Autobahn gilt entsprechend nur für einige wenige Menschen. Wo aber verbergen sich in diesen Netzwerken des Zwangs und der Ausbeutung utopische Momente? Und wie sind diese zu ergreifen?
Utopische Momente der Autobahnen
Das Nachdenken über konkrete utopische Momente sollte sich meiner Meinung nach an einer vorausgegangenen Analyse bedienen.9 Wie ich dargelegt habe, handelt es sich bei Autobahnen um sozio-materielle Infrastrukturen. Diese technisierten Netzwerke sind menschengemacht und wurden mit der Zeit zu einer zentralen Vermittlungsinstanz gesellschaftlicher Verhältnisse. Sie erstrecken sich also über weite Teile des gesellschaftlichen Lebens. Sie sind beispielsweise elementar für alltägliche Mobilitäten, globale Kapitalkreisläufe oder nationale Identitäten und können somit nicht einfach abgeschafft werden. Dennoch gehe ich von der Prämisse aus, dass sie es müssen, da sie nicht nur dem Klima schaden, sondern eben auch nationalstaatliche Ideologie und kapitalistische Reproduktionsverhältnisse verfestigen.
Wie dieses Ziel erreicht werden soll, wird recht unterschiedlich diskutiert. In der Infrastrukturforschung argumentieren Vertreter*innen der sogenannten »Chokepoints-These«, dass Logistikarbeiter*innen eine zentrale Stellung in der globalen Produktionsordnung einnehmen und diese deshalb lahmlegen können, indem sie Schwachstellen (chokepoints), wie Autobahnabschnitte, blockieren. So fanden 201810 in Brasilien Proteste und Straßenblockaden von LKW-Fahrenden statt, welche die nationale Wirtschaft für einige Tage stoppten. In Deutschland sind die deutlich kleineren Proteste einiger LKW-Fahrer*innen 2023 in der Nähe von Gräfenhausen bekannt. Wie schwer es jedoch ist, diejenigen von der Abschaffung von Autobahnen zu überzeugen, deren Interesse es ist, diese zu nutzen, zeigt die Kurzlebigkeit der Proteste in Deutschland und Brasilien, sowie die Diskussionen über ein Tempolimit oder zu autofreien Innenstädten.
Dennoch denke ich, dass diese theoretischen und praktischen Überlegungen Lücken in der Dominanz jener Infrastruktur aufzeigen. Blockaden verdeutlichen beispielsweise, dass Fahrbahnen nicht allein dem automobilen Verkehr dienen müssen, sondern auch Alltagsraum für diejenigen sein können, die sich zu Fuß fortbewegen. Sie zeigen auch, dass es sich hierbei um Phänomene handelt, die weit über die Grenzen der Fahrbahnen und jeweiligen Nationalstaaten führen. So wurden die damaligen Proteste in Brasilien aufgrund einer Krise der kapitalistischen Produktionsordnung, welche 2014 Brasilien traf, hervorgerufen.
Meiner Meinung sind die Gründe für das Scheitern solcher Proteste die partielle theoretische und praktische Betrachtung des Phänomens Autobahn. Beispielsweise existieren in der Initiative »Wir fahren zusammen« übergreifende Bündnisse zwischen Klimabewegung und gewerkschaftlich organisierten ÖPNV-Arbeiter*innen. Jedoch wird sich allein auf die Verbesserung des ÖPNV-Angebots und der individuellen »Bewegungsfreiheit« konzentriert. Eine Verbindung zum (migrantischen) Arbeitskampf auf Autobahnen durch Transport- und Logistikarbeiter*innen, findet nicht statt. Ich denke aber (und das zeigte sich etwa in Gräfenhausen), dass die Ausweitung von Autobahnen nicht nur zu einer Verbreitung der Logik des Kapitals und Nationalstaats beigetragen hat. Es ermöglicht uns auch bisherige Grenzen der politischen Organisierung zu überschreiten und für ein schönes Leben zu kämpfen.
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1
Brecht, Bertolt (1965): Me-Ti Buch der Wendungen. Fragment. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 168.
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2
Andueza, Luis; Davies, Archie; Loftus, Alex; Schling, Hannah (2021): The body as infrastructure. In: Environment and Planning E: Nature and Space 4 (3), S. 799–817. DOI: 10.1177/2514848620937231.
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3
Truscello, Michael (2020): Infrastructural brutalism. Art and the necropolitics of infrastructure. Cambridge, Cambridge, Massachusetts, London, England: The MIT Press (Infrastructures), S. 117-145.
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4
Makropoulos, Michael (2004): Die infrastrukturelle Konstruktion der "Volksgemeinschaft". Aspekte des Autobahnbaus im nationalsozialistischen Deutschland. In: Ulrich Bröckling, Stefan Kaufmann und Axel T. Paul (Hg.): Vernunft - Entwicklung - Leben, Schlüsselbegriffe der Moderne. München: Wilhelm Fink Verlag, S. 185–203.
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5
In den imperialen Zentren wächst die Autobahn zahlenmäßig nur durch ihre Auslastung, in der (kolonialen) Peripherie werden hingegen massive Projekte finanziert. Hierzu z.B.: Gurung, Phurwa (2021): Challenging infrastructural orthodoxies: Political and economic geographies of a Himalayan road. In: Geoforum 120, S. 103–112.
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6
Kuligowski, Waldemar (2019): How “Poland Entered Europe”. In: Transfers 9 (1), S. 1–19.
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7
Als Beispiel für den Fall Albaniens: Dalakoglou, Dimitris (2010): The road: An ethnography of the Albanian–Greek cross‐border motorway. In: American Ethnologist 37 (1), S. 132–149.
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8
Weirich, Anna; Wahl, Michael (2023): Lebens- und Arbeitsbedingungen der Lkw-Fahrenden auf Parkplätzen in Deutschland. Erfahrungen aus der Beratungspraxis von Faire Mobilität. Hg. v. Faire Mobilität. Verfügbar unter https://www.faire-mobilitaet.de/internationaler-strassentransport/++co++507ead68-f496-11ed-9725-001a4a160123, zuletzt geprüft am 11.10.2023.
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9
Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt Main: Suhrkamp-Taschenbuch-Verl. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft), S. 964ff.
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10
Nowak, Jörg (2022): Do choke points provide workers in logistics with power? A critique of the power resources approach in light of the 2018 truckers’ strike in Brazil. In: Review of International Political Economy 29 (5), S. 1675–1697.