
Damit aus der halben Demokratie keine ganze Autokratie wird
Über die Notwendigkeit der Demokratisierung der Wirtschaft
Man denkt sich: »Wir leben in einer Demokratie!« – das stimmt zwar, aber nicht ganz! Ein zentraler Teil des gesellschaftlichen und alltäglichen Lebens ist davon ausgenommen: Im Gegensatz zur Politik ist die Wirtschaft nicht demokratisch, sind die Unternehmen autoritär und hierarchisch organisiert. Deshalb charakterisiert Oskar Negt (2011: 9) die politische Demokratie nur als »halbe Demokratie«, die aber immer in der Gefahr läuft, dass sie ganz ins Autoritäre kippt, weil negative Einflüsse der anderen, undemokratischen wirtschaftlichen Hälfte des Lebens darauf zu beobachten sind. Es ginge allerdings auch andersrum: ganz demokratisch.
Halbe Demokratie, halbe Autokratie
Eine Demokratisierung der Wirtschaft als notwendig zur Aufrechterhaltung der politischen Demokratie zu erachten, setzt voraus, dass man (politische) Demokratie als sinnvoll, vorteilhaft bis notwendig erachtet. Demokratie kann normativ als »doppeltes Versprechen« charakterisiert werden (Jörke 2010): Einerseits verspricht das prozedurale Versprechen der gleichen und effektiven Teilhabe am politischen Prozess Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, den formal und faktisch gleichen Zugang zur politischen Macht sowie die faktische Wirksamkeit dieser; andererseits liegt das substantielle Versprechen in einer Angleichung der sozialen Lebensverhältnisse durch relative Vermögens- und Einkommensgleichheit. Derzeit bestehen jedoch (in der Wirtschaft entstehende und durch die Politik zugelassene) finanzielle Ungleichheiten, die die formal bestehende (gleiche und wirksame) politische Partizipationsmöglichkeiten faktisch einschränken (Anderson 2019). Nur gemeinsam können beide Versprechen langfristig eingelöst werden.
Durch ungleiche Zugangsbedingungen der Marktteilnehmer*innen kann die bestehende Marktwirtschaft als prozedural-undemokratisch beschrieben werden. Innerhalb von Unternehmen herrschen klare Autoritäts-, Ansehens- und Statushierarchien zwischen Arbeitgeber*innen und Aktionär*innen auf der einen und Arbeitnehmer*innen auf der anderen Seite. Es bestehen einerseits keine Rechenschaftspflichten und andererseits teilweise in die Privatsphäre der Arbeitnehmer*innen reichende Überwachung und Sanktionierung durch die Arbeitgeber*innen. Arbeitnehmer*innen können (abgesehen von vereinzelten Ausnahmen) an den relevanten Entscheidungen des Unternehmens weder gleich noch effektiv teilhaben. In undemokratischen Unternehmen beherrschen Arbeitgeber*innen und Aktionär*innen Arbeitnehmer*innen größtenteils despotisch. Arbeitnehmer*innen besitzen hier keine republikanische Freiheit im Sinne der Abwesenheit willkürlicher Herrschaft.
Durch diese undemokratischen Strukturen der Unternehmen und der Wirtschaft und durch die nur begrenzte demokratisch-politische Einschränkung derer, entsteht die ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung. Diese schränken die Demokratie ein, indem sie den gleichberechtigten Zugang der Bürger*innen zur politischen Arena und ihre gleichberechtigte Fähigkeit, die Ergebnisse in dieser Arena zu beeinflussen, untergraben (Cohen 1989). Dadurch, dass wirtschaftliche Ressourcen die materielle Grundlage für organisiertes politisches Handeln bilden, sind materiell benachteiligte Gruppen – trotz formaler Gleichheit – faktisch mit erheblichen Hindernissen konfrontiert. Weil Parteien und Regierungen unter anderem von Steuereinnahmen abhängen, sind Politische Entscheidungen auf eine funktionierende Wirtschaft angewiesen. Dadurch dass Unternehmen derzeit hierarchisch-despotisch organisiert sind, wird Politik derzeit strukturell von undemokratischen Akteur*innen eingeschränkt (Przeworski 1985).
Insgesamt ist die (politische) Demokratie durch die hierarchisch-autoritäre Grundstruktur der Wirtschaft und der Unternehmen, weil diese einen so zentralen anderen halben Teil der Gesellschaft ausmachen, anfällig, auch autoritär zu werden.
Bessere politische Demokratie durch wirtschaftliche Demokratie
Am Arbeitsplatz als Arbeitnehmer*in demokratisch Unternehmensentscheidungen zu treffen, träge jedoch zur Entwicklung eines demokratischen Bürger*innenverständnisses und eines Gemeinwohlsinnes bei und ermögliche Erfahrungen der Änderbarkeit sozialer Konstruktionen und der demokratischen (Selbst-)Wirksamkeit (Pateman 1970; Kiess et al. 2023). Statt hierarchische Strukturen in der ökonomischen Sphäre zu erleben und zu naturalisieren, werden hier Fähigkeiten entwickelt und Erfahrungen gesammelt, die für die politische Demokratie und deren Stabilität notwendig sind. Letztendlich können politische und auch wirtschaftliche Institutionen und Verfahren Demokratie alleine nicht verteidigen, sondern nur eine demokratische Bürger*innenschaft.
Wenn demokratische Unternehmen die (negative, positive und republikanische) Freiheit aller Beteiligten gegeneinander abwägen und folglich die positive und republikanische Freiheit (zu etwas) der vielen Arbeitnehmer*innen erweitern, indem sie die negative Freiheit (von etwas) der wenigen Arbeitgeber*innen einschränken, kann dies gesamtgesellschaftlich zu starken Nettogewinnen an individueller Freiheit führen (Anderson 2019). Derzeit undemokratische Unternehmen können und sollen zudem demokratisch organisiert werden, weil sie den einst auch undemokratischen, heute jedoch teilweise demokratischen Staaten – trotz gewisser Unterschiede – strukturell und intentional analog sind (Dahl 1985). Staaten und Unternehmen bauen grundsätzlich auf Kooperation auf, die zum gegenseitigen Vorteil der Mitglieder funktionieren sollte und bei der jede*r bestimmte Regeln zu befolgen hat – aber auch jede*r an diesen Regeln mitwirken sollte.
Eigene Institutionalisierung, gemeinsames Ziel
Inwieweit eine Demokratisierung der Wirtschaft und der Unternehmen negative Effekte der Wirtschaft auf die Politik verringern und positive Effekte der Wirtschaft auf die Politik ermöglichen kann, hängt maßgeblich von deren Institutionalisierung ab. Wirtschafts- und Unternehmensdemokratie heißt nicht, die institutionelle Umsetzung der Demokratie im politischen Bereich unangepasst auf den wirtschaftlichen Bereich zu übertragen, sondern die Unterschiede zwischen Politik und Wirtschaft sowie den gegenseitigen Einfluss derer zu berücksichtigen.
Es gibt zahlreiche Theorien und Konzepte der Unternehmens- und Wirtschaftsdemokratie. Unternehmensdemokratie ist die demokratisch organisierte Führung des Unternehmens durch alle Mitglieder, um den gemeinsam erzeugten Mehrwert im Sinne des Unternehmensziels zu verwirklichen, zu nutzen und zu verteilen. Eine demokratisch legitimierte Gestaltung aller wirtschaftlicher Strukturen und Prozesse, die über die einzelnen Unternehmen hinausgehen, um Gemeinwohl über privatwirtschaftliche Gewinne zu stellen, bedeutet Wirtschaftsdemokratie (Zeuch 2022). Alle unterschiedlichen Institutionalisierungen haben gemein, die Unternehmen und/oder die Wirtschaft im Sinne des Allgemeinwohls zu strukturieren – mittels einer unternehmens- und wirtschaftsdemokratischen Parallelstruktur zur politischen Demokratie und/oder mittels des (wieder-)herzustellenden Primats der demokratischen Politik über die Wirtschaft.
Ganze Demokratie gegen autokratische, faschistische Herausforderungen
Wirtschafts- und Unternehmensdemokratie sind ein Mittel, das dazu beitragen kann, die wirtschaftliche Sphäre selbst demokratisch(er) zu gestalten und die Demokratie inner-, aber auch außerhalb der politischen Sphären zu unterstützen. Gemeinsam könnten politische und wirtschaftliche Demokratie durch gleiche und effektive Teilnahme aller und durch eine Angleichung der Lebensverhältnisse die Demokratie institutionell stabilisieren sowie eine aktive demokratische Bürger*innenschaft schaffen – und sich gegenseitig stärken. Allerdings kann auch eine Wirtschafts- und Unternehmensdemokratie wenig gegen eine politische Demokratie bewirken, die – politisch intendiert und/oder ignorierend –weniger gleiche und effektive Teilhabe ermöglicht und die zu immer stärkerer Einkommens- und Vermögensungleichheit führt.
Die Einführung von weitreichender Unternehmens- und Wirtschaftsdemokratie scheint schwierig, da grundlegende Änderungen die bestehenden undemokratischen Herrschafts- und Machtstrukturen angreifen. Entsprechend haben die aktuellen Profiteur*innen der undemokratischen Wirtschafts- und Unternehmensstruktur kein Interesse an einer Demokratisierung und erschweren beziehungsweise verhindern weitreichende Änderungsversuche. Mittels politisch veränderter, rechtlicher Rahmenbedingungen, Subventionen und Steuervorteilen kann beispielsweise die bisher erschwerte Umsetzung insbesondere unternehmensdemokratische(re)r Konzepte jedoch unterstützt werden (Fleurbaey 2008).
Bis zur Umsetzung weitreichenderer Unternehmens- und Wirtschaftsdemokratie scheint es ein weiter Weg zu sein. Ein erster Schritt wäre, Unternehmens- und Wirtschaftsdemokratie wieder in die gesellschaftliche Debatte zurückzuholen, als demokratische oder gar demokratisch-notwendige Maßnahme zu etablieren. Nur wenn Bürger*innen und Arbeitnehmer*innen, aber auch Arbeitgeber*innen, Aktionär*innen und Politiker*innen bewusst wird, dass eine Demokratie ohne die Demokratisierung der Wirtschaft unvollständig ist – dass »[k]eine Zukunft der Demokratie ohne Wirtschaftsdemokratie” (Negt 2011) besteht – und wenn folglich die Wirtschaft schrittweise demokratisiert wird, kann sich die ganze (politische und wirtschaftliche) Demokratie gegen autoritäre, faschistische Herausforderungen behaupten.