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Drei Hunde schnüffeln am Boden

Hannah Espín Grau ist Juristin, Politikwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kriminologie und Strafrecht der Goethe-Universität Frankfurt. Sie ist Mitverfasserin der Studie »Gewalt im Amt. Polizeiliche Gewaltanwendung und ihre Aufarbeitung«. Im Interview spricht sie über die Zukunft der Polizei, die fatale Schieflage in Kompetenzdebatten und warum der Rechtsstaat nicht die Polizei vor uns, sondern uns vor der Polizei schützen sollte.

AStA-Zeitung: Frau Espín Grau, vorausgesetzt, in 100 Jahren gibt es uns alle noch: Mit was für einer Polizei hat ein Straftäter im Jahr 2124 zu rechnen?

Hannah Espín Grau: Es gibt natürlich keine Glaskugel, in die wir jetzt schauen könnten. Aber eine Polizei bildet immer die Werte der jeweiligen Zeit, der jeweiligen Gesellschaft ab. Wie Polizeiarbeit in 100 Jahren aussieht, kommt also darauf an, ob Menschenrechte eine größere Relevanz gewinnen oder ob es eher in Richtung Sicherheit und Ordnung geht. Neue Technologien werden natürlich auch eine Rolle spielen, aber das Grundgefüge hängt davon ab, wie die gesamte Gesellchaft bis dahin aufgestellt ist. 

Lassen Sie uns erst einmal einen Schritt zurück gehen. Welche Entwicklungen bei der Polizei beobachten Sie in den letzten zehn bis 20 Jahren?

Die Tendenzen sind widersprüchlich. Auf der einen Seite wächst das Bewusstsein für die Rechte von Minderheiten und anderen marginalisierten Gruppen, vorangetrieben von Bewegungen wie Black Lives Matter. Das Wissen darüber, welche Rolle die Polizei dabei spielt, verbreitet sich durchaus in der Polizei selbst. Gleichzeitig beobachten wir zunehemend Rufe nach Repression politischer Bewegungen und der Ausweitung rechtlicher Kompetenzen, gerade für den Einsatz neuer Technologien. Da knirscht es manchmal im Institutionengefüge. Man findet dann Kompromisse, schafft etwa Polizeibeauftragte, die aber gar nicht die Ermittlungskompetenzen haben, um die Polizeiarbeit effektiv zu kontrollieren. 

Können Sie Beispiele für die neuen Technologien nennen? 

Wir unterscheiden zwischen Einsatztechnologien und solchen, die zur Vorbeugung oder Strafverfolgung genutzt werden, mit denen Polizist*innen also ermitteln oder Gefahren vorhersagen. Bei den Einsatztechnologien gab es in den letzten Jahren viel Bewegung, es geht vor allem um Bodycams und Taser. Für Ermittlungen sind Gesichtserkennungssoftwares in der Diskussion, und im Vorhersagen, dem sogenannten Predictive Policing, viel computergestützte Datenanalyse. Dafür braucht es aber natürlich immer auch die Kompetenzen, die gesetzlichen Befugnisse. 

Was kommt zuerst: Die Technologie oder die Debatte um mehr Befugnisse?

Auch da ist die Unterscheidung zwischen Einsatz und Ermittlung wichtig. Bei Dingen wie Bodycams oder Tasern ist es oft so, dass Hersteller*innen zum Beispiel auf internationalen Messen auf die Institutionen zugehen und ihre Produkte präsentieren. Da kommt die Hardware also eher zuerst — woran man übrigens schön die Verwebung von Staat und Kapital sehen kann. Aber Analysetechnologien, mit denen man versucht, Straftaten zu verhindern und potentielle Täter*innen zu identifizieren, entsprechen einem ureigenen Bedürfnis der Polizeiarbeit: Vor die Lage kommen. Aktiv werden, bevor die Gefahr eintritt. Da gehen neue technische Möglichkeiten und Rufe nach mehr Kompetenzen oft Hand in Hand. 

Und dann geht die große Diskussion los? 

Ja, vor allem die Polizeigewerkschaften sind meist ganz vorne mit dabei, wenn es darum geht, neue Befugnisse zu fordern. Deren Rolle ist wirklich interessant. Gewerkschaften sind natürlich wichtig, um die Interessen von Arbeitnehmer*innen zu vertreten. Die Gewerkschaften der Polizei weiten ihre genuine Aufgabe aber aus, indem sie ständig Forderungen aufstellen, welche Kompetenzen die Polizei eigentlich noch alles bräuchte. Sie verknüpfen das diskursiv mit der Arbeitssicherheit der Beamt*innen, die natürlich wichtig ist, aber mit rechtlichen Befugnissen oft einfach wenig zu tun hat. Die Sicherheit der Gesellschaft ist nicht automatisch gleichbedeutend mit der Sicherheit von Polizist*innen. Ein gutes Beispiel ist die Bodycam-Debatte. In den USA ging das als bürgerrechtliche Idee los, insbesondere Schwarze Menschen sollten damit vor übermäßiger Polizeigewalt geschützt werden. In Deutschland verkehrte sich das Ganze ins Gegenteil. Hier argumentierten die Gewerkschaften, die Bodycams würden als Sicherheitsmaßnahme für Beamt*innen gebraucht. Man muss sich klarmachen, dass grundsätzlich jede neue Kompetenz dazu führt, dass Menschen heftiger poliziert1 werden.

Was ist denn problematisch daran?

Problematisch ist, dass die Polizei als Expertin für das Recht und für ihre eigenen Kompetenzen gesehen wird, obwohl sie kein neutraler Akteur in dieser Debatte ist. Bei Technologien verselbstständigt sich das ganze noch mehr, weil sie oft schwer verständlich sind und viele Menschen die verschiedenen rechtlichen und tatsächlichen Probleme nicht überblicken. Ein Beispiel: Ein Taser ist weniger eingriffsintensiv als eine Schusswaffe, das klingt erst mal gut und wurde von Polizeigewerkschaften auch als Argument vorgetragen, sie nutzen zu dürfen. Aber wegen der niedrigen Hemmschwelle wird der Taser auch häufiger eingesetzt. Dabei ist er ein sehr gewaltvolles Mittel, dass zu schweren Verletzungen, in Ausnahmefällen zum Tod, führen kann. Insofern ist es für mich eine spannende Frage für die Zukunft, wie wir diese Kompetenzdebatten weiterführen und ob sich Gegenstimmen entwickeln, die dieser polizeilichen Hegemonie in der Frage, welche Kompetenzen diese Institution braucht, auch etwas entgegensetzen können.

Welche könnten das sein?

Es kommt extrem stark auf die Stimmen derjenigen an, die poliziert werden. 

Sind wir das nicht alle?

Ja, es werden alle poliziert. Wir leben in einer polizierten Gesellschaft. Aber wir sind unterschiedlich stark von den Auswirkungen betroffen. Wer zum Beispiel Racial Profiling erlebt, lebt einfach ein ganz anderes Leben, auch ein anders poliziertes Leben als Menschen, die vielleicht mal in Kontakt mit der Polizei kommen, weil ihr Fahrrad geklaut wurde oder weil sie ohne Ticket gefahren sind. Diese Stimmen lassen sich unterschiedlich organisieren und politisieren. Im Übrigen gibt es durchaus auch innerhalb der Polizei kritische Stimmen, die uns zum Beispiel begegnen, wenn wir unsere Forschungsergebnisse vorstellen. Neben Gegenwind gibt es immer wieder Beamt*innen, die uns einladen oder zurückmelden, dass sie unsere Arbeit wichtig und gut finden, dass diese Themen sie in ihrer Arbeit beschäftigen. 

Was ist deren Zukunft in der Institution Polizei?

Das ist die Frage. Diese Organisation ist stark von Hierarchien geprägt. Es kommt darauf an, inwieweit diese Stimmen überhaupt Artikulationsfähigkeit entwickeln. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte hat ein Whistleblower-Projekt für kritische Polizist*innen gestartet, solche Initiativen sind wichtig, um diesem hegemonialen Block etwas entgegenzusetzen. Insgesamt hängt es wahnsinnig von gesellschaftlichen Konjunkturen ab, wem Gehör geschenkt wird. Da sehen wir eine Verschiebung. Als wir mit unserer Forschung 2018 angefangen haben, sah es in unserer Medienrecherche aus, als hätte es Ouri Jalloh gegeben in Deutschland und das wäre es gewesen, sonst wäre das Polizeiproblem so ein Phänomen aus den USA. Das hat sich total verändert. Wenn sich Betroffene also organisieren und organisiert artikulieren, bilden sie ein wichtiges Gegengewicht zu dem, was Polizeigewerkschaften fordern.

Und dann? Was wollen wir eigentlich für eine Polizei?

Ein Problem, das wir dringend lösen müssen, ist die Bedeutungsumkehr von Polizei und Rechtsstaat. Maximilian Pichl beschreibt das sehr gut in seinem Buch »Law statt Order: Der Kampf um den Rechtsstaat”. In der Argumentation der Politik, von Sozialdemokraten bis zur CDU und noch weiter rechts, verkörpert die Polizei den Rechtsstaat. Dabei bedeutet Rechtsstaatlichkeit, dass Bürger*innen vor dem Staat geschützt sind, also auch und gerade vor der Polizei. Ich glaube, dass wir darum ringen müssen, die Polizei rechtsstaatlich zu kontrollieren, mit Polizeibeauftragten, die auch ermitteln können, mit parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und ähnlichem.

Viele Linke spüren einen inneren Widerstand, wenn die Lösung im Rechtstaat eines bürgerlich-liberalen Systems liegen soll. Was antworten Sie ihnen?

Erst einmal ist es natürlich wichtig, genau diese Widersprüchlichkeit zu sehen. Auch unser Rechtsstaat ist der Rechtsstaat einer bestimmten Gesellschaftsform in dem jeweiligen historischen Moment. Zugänge zum Recht zum Beispiel sind durch materielle Fakten bestimmt, da sind Prinzipien schön, aber die Realität crasht manchmal ziemlich rein. Rechtsstaat ist also kein Allheilmittel. Aber es ist ein Prozess, und gerade jetzt gilt es, das Schlimmste zu verhindern. Bestimmte Entgrenzungstendenzen gegenüber dem Recht sind der Polizei inhärent, gedeihen aber besser oder schlechter in einem bestimmten politischen Klima. Die Polizei darf sich nicht weiter verselbstständigen und ihre Kompetenzen weiter selbst definieren. Wir brauchen einen aktiven, kritischen Diskurs darüber, was für eine Polizei wir wollen. Solange ein gesellschaftlicher Konsens darüber besteht, dass es eine Polizei braucht, dass es eine Institution mit Gewaltmonopol braucht, muss diese Institution so gründlich wie möglich kontrolliert sein.

Apropos: Wie blickt eine Polizeiforscherin eigentlich auf abolitionistische Theorien, nach denen Polizei und Gefängnisse abgeschafft und — vereinfacht gesagt — durch demokratische Strukturen ersetzt werden sollen? 

Das kommt natürlich darauf an, wofür sich die jeweilige Forscherin interessiert. Ich finde das sehr spannend. Allein die Frage, welche Kompetenzen die Polizei eigentlich haben soll, geht ja schon in diese Richtung: In was für einer Gesellschaft leben wir, mit welchen Ungerechtigkeiten haben wir es gerade zu tun und wie können wir die lösen? Ich glaube, da muss man sich eigentlich mit diesen Theorien beschäftigen. Polizei zu erforschen heißt für mich immer auch, Gesellschaft zu erforschen. Viel Polizeiforschung passiert ja an Polizeihochschulen und da sitzen auch teilweise sehr kompetente Leute. Aber da ist dann viel Evaluationsforschung dabei, Fragen nach Arbeitszufriedenheit, nach Einstellungen und so weiter. Es ist natürlich wichtig zu wissen, wie es den Polizeibeamt*innen geht, wie sich deren Alltag gestaltet und ähnliches. Aber ich persönlich finde es tatsächlich immer relevant, weiterzufragen: In welchem Kontext handeln die denn hier gerade?

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    Anm. d. Red.: Polizieren meint in diesem Kontext die Gesamtheit polizeilichen Handelns, also Kontrolle und Überwachung ebenso wie konkrete Eingriffe.