Überlegungen zur gegenwärtigen Konjunktur des Rassismus in Deutschland
Vortrag von der Gegenkonferenz »Migration entkriminalisieren, Pluralität leben« des AStA der Universität Frankfurt am Main am 28. April 2023
Ich möchte in den folgenden Minuten einige Überlegungen zur gegenwärtigen Konjunktur des Rassismus in Deutschland entwickeln, die ich aus einer anti-rassistischen und unverkennbar einer theoretischen Position oder Situierung formuliere. Nun kennen wir alle möglichen Formen von Rassismus aus der Geschichte und Gegenwart, und wir könnten versucht sein, den Rassismus darüber zu bestimmen, wen er unterdrückt. Dies kennen wir auch aus der Diskussion um Rassismus heutzutage: So ist von Antiziganismus, von antimuslimischem Rassismus, Islamophobie und anti-schwarzem Rassismus ebenso die Rede wie von Antimigrantismus. Bereits ein flüchtiger Blick auf die ›klassischen‹ Rassentheorien zeigt allerdings, dass es nicht bloß darum geht, eine Gruppe einer anderen über- oder unterzuordnen, sondern eine Aufteilung der gesamten Welt in ›Rassen‹ oder ›Kulturkreise‹ vorzunehmen. Nicht nur in den Klassifikationen sind rassistische Zuschreibungen miteinander verbunden. Die Gruppen, die der Rassismus unterdrückt und hierarchisiert, gibt es nicht. Hier liegt also eine fiktive Tätigkeit im aktiven Wortsinn vor, eine Erfindung und permanente Wiedererkennung von Rassen und einander ausschließender Kulturen etc. Dies ist auch in Bezug auf unsere Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen des Rassismus zu berücksichtigen. Wir dürfen nicht der Gefahr erliegen, die Kategorien des Rassismus in ihrer verkennenden und zugleich erklärenden Funktion zu übernehmen oder bloß kritisch in der Wortwahl abzuwandeln, sondern müssen die Welt anders erklären.
Um die Spezifität des Rassismus heute anders bestimmen zu können, müssen wir uns zunächst allerdings fragen, was Rassismus als Abstraktion bedeuten kann, die wir konstruieren, um die vielfältigen Spezifika verschiedener Rassismen differenzieren zu können.1 Eine solche Bestimmung von Rassismus im Allgemeinen wird also eher dürftig sein. Sie erledigt noch nicht, was zu tun und zu wissen ist, stellt aber eine notwendige theoretische Aufgabe dafür dar, um diese Art von Wissen zu produzieren. Was ließe sich versuchsweise für den Rassismus auf dieser Ebene sagen?
Ich würde in aller Kürze für diesen Vortrag vorschlagen: Erstens ist Rassismus ein gesellschaftliches Verhältnis der Herrschaft und mithin eine Form der Ausübung und Legitimierung von Gewalt. Es hilft aber nicht viel, darüber bloß moralisierend zu sprechen, wenn wir verstehen wollen, wie dieses gesellschaftliche Verhältnis funktioniert und was gegen es getan wurde und getan werden kann. Rassismus ist zweitens eine Denkweise, die Reales und Imaginäres vermischt, um daraus Ordnungen anzufertigen, Hierarchisierungen und Trennungen zu behaupten. Was alle Spielarten von Rassismus zu verbinden scheint, ist eine Vorstellung davon, dass Heterogenität entweder der Assimilation oder Integration unterworfen werden müsste, oder aber, dass Heterogenität im Sinne einer Vorstellung von Reinheit nur in Trennung gedacht werden kann. Darüber hinaus gibt es nie nur ein vorgestelltes Anderes, sondern dieses wird auch immer mindestens subtil als minderwertig zu einem »Wir« gedacht. Die vorgestellten Gemeinschaften, ob als »Rassen«, als »Kulturen« oder als »Ethnien«, werden in Prozessen konstruiert, in Produktionen von Differenzlinien, zwischen Selbst und Anderen, zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Ein solches Ziehen von Differenzlinien ist aber kein Phänomen eines rein individuellen Denkens oder überhaupt eines des Bewusstseins, sondern eines der Verkennung, die sich in gesellschaftlichen Praxisformen vollzieht und hierin ausgearbeitet wird. Was genau darin verkannt wird, ist natürlich immer das Selbst und das Andere, aber damit verknüpft genau die konkreten Situationen und natürlich-sozialen Verhältnisse in ihrer Vielgestalt. Es handelt sich um alltägliche Praxisformen und institutionelle Rituale, durch die »wir« uns als etwas begreifen und erleben lernen, das sich genau über diese Differenz in der Welt situiert. Was kennzeichnet nun eine rassistische Denkweise und Institution für eine Vorstellung von »uns« und »denen«?
Für die verschiedensten Rassismen spielt die Vorstellung von Vererbung eine zentrale Rolle. Das Ideologische am Rassismus ist die Ausarbeitung eines Schemas der Genealogie zwischen der eigenen Herkunft oder den eigenen Vorfahren und mithin einer eigenen durch die Geschichte transzendent gegebenen Gemeinschaft und dem »Wir« in der Gegenwart. Zugleich ist das ein Schema der Genealogie der »Anderen«, bis zu seinem Ausbuchstabieren in vermeintlichem Wissen über die Verschiedenheit von »Rassen« oder auch über verschiedene »Ethnien« und »Kulturen«. Rassismus basiert auf in Institutionen und Praktiken gelebten Vorstellungen, wonach das, was wir Identität nennen könnten, symbolisch vererbt wird, also »daß die Verkettung der Individuen dazu führt, daß jede Generation der anderen eine biologische und geistige Substanz übermittelt und sie gleichzeitig in eine zeitliche Gemeinschaft stellt, die man ›Verwandtschaft‹ nennt.«2 Hier liegt im Übrigen auch die strukturelle Grundlage für seine Verknüpfung mit den patriarchalischen Geschlechterverhältnissen, die das generative Verhalten regulieren. Solche Gemeinschaftsbildungen kennen wir als in den nationalen Gemeinschaften mindestens angelegte Formen, aber auch als über die Nation hinausweisende Fantasien einer ursprünglichen Reinheit einer wahren oder ideellen Nation, die sich etwa in der Erfindung einer »weißen Rasse« oder einer »abendländischen Zivilisation« historisch folgenreich niedergeschlagen hat. Diese Art der ideologischen Rassenkonstruktion vollzieht sich in unseren Gesellschaften in elementaren Formen der Welterklärung, also der Erklärung der eigenen Position in der Welt. In diesem Sinne ist Rassismus eine Form der Herrschaft auch für jene, die sich ihm entsprechend organisieren. Er ist eine autoritäre Kollektivbildung. Autoritäre Kollektivbildungen bannen die Einzelne; wenn sie sich der zugeschriebenen Bindung über das genealogische Schema zu entwinden versucht, wird sie zur Verräterin erklärt – man denke nur an die Figur des »Vaterlandsverräters«. Zugleich suggerieren autoritäre Kollektivbildungen Handlungsfähigkeit. Die sich mittels rassistischer Kriterien organisierenden und identifizierenden Subjekte sagen ›wir‹ und wissen wer gemeint ist und wer nicht. Das bedeutet aber keine befreiende Ermächtigung, sondern eine Gängelung und Vereinheitlichung für jene, die dem Rassismus folgen. Sie kämpfen nicht selten, um es mit Spinoza zu sagen, für ihre Unterwerfung, als wäre es für ihr Heil.
Schließlich lässt sich Rassismus auf diesen Thesen aufbauend als gesellschaftliches Verhältnis bestimmen, das intrinsisch mit anderen Formen der Herrschaft verbunden ist, insofern er als Weise auftritt, sie zu leben und zu erklären, ohne darin vollkommen aufzugehen. Mehr noch lässt sich so verhindern, die verschiedenen Rassismen an die vermeintlich reale Präsenz von sogenannten Fremden zu binden. Stattdessen kann so die ideologische Produktion und Reproduktion des Eigenen und des Fremden mittels genealogischer Schemata selbst untersucht werden. Auf diese Weise über Rassismus nachdenken, heißt dementsprechend auch, die ideologischen Konstruktionen, auf die sich rassistische Verhältnisse stützen, selbst als umkämpft zu betrachten. Die Trennung des Selbst von den Anderen erfolgt nicht automatisch. Das heißt, die Trennlinien werden immer wieder reproduziert, aber sie transformieren sich dabei unter der Einwirkung von Konflikten, Auseinandersetzungen und Kämpfen.
Ich sagte bereits, dass die Thesen zur allgemeinen Bestimmung des Rassismus dürftig sein werden. Dennoch lässt sich mit diesen Thesen nun der Spezifität des Rassismus anders nachgehen. Ihr jeweils Spezifisches lässt sich nicht aus einer Bestimmung des Rassismus als für sich stehender Formation ermessen, sondern aus seiner Wirksamkeit in den natürlich-sozialen Verhältnissen, aus seinen Relationen selbst. In welchen Figuren des Selbst und der Anderen verdichtet sich Rassismus als Form, die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu leben und zu erklären? Wo liegen in einer bestimmten gesellschaftlichen Konjunktur Knotenpunkte seiner Reproduktion, die seine Macht in allen gesellschaftlichen Bereichen vom Heiratsverhalten und der Sexualpraxis über die Arbeitsverhältnisse und die Staatsbürger:innenschaft regulieren?3 Zu welchen Entwicklungen trägt das bei und wie können wir darin eingreifen, um die Situation anders zu erklären und ein politisches Handeln zu ermöglichen? Mit der letzten Frage habe ich bereits die angesprochene theoretische und anti-rassistische Orientierung vom Beginn wieder aufgenommen. Eine Analyse der Konjunktur handelt nicht von einer Vollständigkeit der Erfassung, sondern entspricht immer auch einem Denken in der Konjunktur selbst, in der diejenigen, die das analysieren und äußern, eine Kraft unter Kräften darstellen. Ein solcher Versuch eines Denkens der gegenwärtigen Konjunktur wird von mir an dieser Stelle zunächst nur über ein allgegenwärtiges Wort vollzogen, jenes der Krise. Schnell deutlich wird: Die Frage danach, in welcher Krise wir leben, kennt immer bereits Antworten. Es reicht, sich das Wort Flüchtlingskrise in Erinnerung zu rufen, das in den letzten Jahren kaum zu überhören war. Sogleich fällt auf, dass die Ausdrücke, die das Ereignis bloß zu benennen scheinen, der herrschende der ›Flüchtlingskrise‹ wie auch die linken Formeln eines ›Sommers der Migration‹ oder einer ›Krise des europäischen Grenzregimes‹, in ihren Verwendungen einen jeweils anderen Sinn der Geschehnisse produzieren. Wenn der Sinn des Ereignisses als ›Flüchtlingskrise‹ evident ist, können die Verschärfungen des europäischen Grenzregimes als notwendige Reaktionen auf dieses Ereignis inszeniert werden und Rassismus kann zu einem natürlichen Faktor oder einer verständlichen Reaktion erklärt werden. Wo sich ein gegenläufiger Sinn des Ereignisses durchsetzen kann, verfangen die rassistischen Erklärungen und behaupteten Notwendigkeiten weniger leicht. So ließe sich an die sogenannte Willkommenskultur erinnern, die im Spannungsfeld zwischen Praktiken der Solidarisierung und der karitativen Hilfe eine andere Reaktion auf die Migrationsbewegungen darstellte.
Welche unterschiedlichen Ursachen alle im Sommer 2015 kulminiert sein mögen, diese Verknüpfung von Ursachen übersteigt jegliche lineare Kausalität: Von der jährlich größer werdenden Menge jener, die sich im Kalkül auf ein besseres Leben ihrer Situation in vielen Fällen des Elends, der Armut und des (Bürger-)Kriegs, aber auch der gescheiterten Befreiung, der enttäuschten Hoffnung entzogen, über die andauernde Kämpfen entlang der verschiedenen europäischen Grenzen, bis zum Kampf um die Unterwerfung Griechenlands unter die Troika, der in diesem Sommer einen Höhepunkt erlebte, und darüber hinaus… Fest steht, dass inmitten dieses Gewebes von Auseinandersetzungen die Öffnung der Balkanroute stand und auf der juristischen Ebene die temporäre Aussetzung des Dublin-Abkommens (das bereits 2011 für Griechenland ausgesetzt wurde), dass also die Kräfteverhältnisse entgegen einer jeden Fiktion eines transzendenten Rechts eine Öffnung in die europäischen Herrschaftsverhältnisse rissen. In bestimmten Tendenzen der Willkommenskultur formte sich in Umrissen eine Erzeugung von Gleichheit, ein Aktiv-Werden einiger Bürger*innen, indem partiell greifbar wurde oder hätte werden können, dass die Bevölkerungen Europas selbst keine aktiven Bürger*innen sein können, wenn es die vermeintlich Anderen, die stärker Entrechteten, die Weggesperrten, die Verdammten nicht sind. Es kann hier nicht darum gehen, diese Tendenz zu romantisieren, sie war sicherlich auf allen Seiten zunächst die untergeordnete. Aber sie markierte dennoch gegenüber der Politik des unterordnenden Einschlusses seitens der administrativen staatlichen Logik unter dem Imperativ der Integration in den Arbeitsmarkt die Spur einer Politik der Freundschaft und damit flüchtige Momente anderer Ordnung. Diese übersetzten sich allerdings kaum in eine Politik der Gleichheitserzeugung, in eine Benennung und Markierung eines beginnenden und fortgesetzten Kampfes.
Zugleich bildeten diese Geschehnisse den Einsatzpunkt herrschaftlicher Logiken, wie sie sich ab Herbst 2015 insbesondere in den bereits seit den Entwicklungen der europäischen Wirtschaftskrise verstärkt parteiförmig organisierten und im Aufwind wähnenden politischen Rechten darstellten. Die Ereignisse des Sommers wurden in dieser Intervention diskursiv umzuwenden versucht, und einer der Hauptakteure hierin war die Bezeichnung »Flüchtlingskrise«. Insofern diese politische Intervention von rechts an zentrale Elemente der bestehenden konservativen Hegemonie anknüpfte, wie an vorkonstruierte Vorstellungen eines ethnisch fixen nationalen »Wir«, sprangen einige Elemente und Kräfte im Block an der Macht auf diese Inszenierung der »Flüchtlingskrise« an, wenn sie sie nicht von vorneherein selbst forcierten. In der Folge wurde das Asylgesetz weiter ausgehöhlt, die AfD setzte ihren Einzug und die Festigung ihrer Position in den Landtagen fort, 2017 wurde sie in den Bundestag gewählt. Die Sicherung der Grenzen und die Kontrolle der Migration wurde verschärft, das Regime der Lager ausgebaut. Im Paktieren mit faschistischen Kräften hat die europäische Migrationspolitik ihre Krise im weiteren Errichten von Mauern und in Fantasien der Abschottung zu bewältigen versucht. Dennoch nehmen die rassistischen Warnungen vor einer »Überfremdung«, was immer das sein soll, kein Ende. Im Gegenteil, sie scheinen sogar lauter geworden zu sein. Im Zuge der Pandemie wurde zwar die Abschiebepraxis zeitweise ausgesetzt, die Situation in den Sammelunterkünften und Lagern aber nun umso mehr als vermeintlicher Sachzwang inszeniert. Dies alles macht bereits deutlich, dass die Verstärkung des Rassismus, seine Manifestation in Parteien, die Zunahme rassistischer Gewalttaten nicht schlicht als Erscheinungsform einer anderen Krise gedacht werden können. Umso wichtiger ist aber, zu erkennen, dass »Migrant*in«, »Migrationshintergrund« und »Flüchtling« gegenwärtig die Rolle wichtiger ideologischer Rassenkonstruktionen spielen. Folgt man den Wirkungen dieser, stößt man nie auf die eine fixierbare Differenzlinie, sondern auf die Ambiguitäten rassistischer Denkweisen, also ihrer Verknüpfungen von Wörtern und Bildern. So treten diese ideologischen Rassenkonstruktionen in grundlegenden Klassifizierungen von der staatlichen Statistik bis zum Alltagsleben auf und bilden den Untergrund rassistischer Stigmatisierung, Entwürdigung und Gewalt. Als medial und diskursiv zirkulierende Bilder wiederum weisen sie allen einen »imaginären Platz« zu, der vorgibt, wie sich zu verhalten sei. Derart wird »der Illusion eine praktische Existenz [verliehen], dass es ein auf der Ähnlichkeit seiner Mitglieder gegründetes Kollektiv gibt«.4 Es ist nur eine vermeintliche Paradoxie, dass diese Logik kein Ende kennt, sich im Gegenteil dort fortsetzt, wo die Ähnlichkeit in der Sprache, in den Verhaltensweisen besteht und nun nach den immer kleiner werdenden Differenzen gefahndet wird in Auftreten, Sprechweisen, Namen etc., um den Differenzen eine Bedeutung zuzuschreiben, sie zu fixieren und zu hierarchisieren.
Die Spezifität der gegenwärtigen Konjunktur des Rassismus zeigt sich insbesondere im Verhältnis zu bereits bestehenden staatlichen Mechanismen, die die ideologische Trennung des Selbst und der Anderen und damit verbunden eine Entrechtung sowie Unterordnung der Stigmatisierten (re)produzieren. Zugleich als staatlicher Imperativ wie als Konsensformel fungiert hierbei spätestens seit den 1990er Jahren die von mir schon erwähnte »Integration«. Das Regime der Integration desartikuliert die historisch in den Kämpfen der Migration erhobenen kollektiven Forderungen nach gleichen politischen und sozialen Rechten und reartikuliert sie als individuelle Anpassungsleistungen und Fragen der Qualifikation.5 Es verspricht individuellen Erfolg und sozialen Aufstieg in Form der Vereinzelung. Dabei aktualisiert es eine Trennlinie, die darauf zielt, das fingierte nationale Selbst zu befestigen, weil es als Maßstab der Integration ausgegeben wird, zu der alle ›Anderen‹ in Abstufungen ins Verhältnis gesetzt werden (von ›gut integriert‹ bis ›nicht integriert‹). Hier haben wir auch ein Scharnier, wenn man so will, entlang dessen sich ein Sprechen über die vermeintlichen Mängel von Integration immer wieder rassistisch artikuliert, wie einige derer exemplifizieren, die heute auf dem Campus eine Bühne bekommen.
Die Rechte in ihren verschiedenen Strömungen knüpft nämlich an das Integrationsregime in ihren Versuchen an, die in der Bundesrepublik ungebrochen herrschende Vorstellung einer ›deutschen Identität‹ aufzugreifen, sie aber als angegriffen und ›unterwandert‹ darzustellen. Basierend auf der Aufrechterhaltung der Trennlinien des Integrationsregimes wird nicht mehr bloß der Imperativ der Integration formuliert, sondern die Unmöglichkeit einer solchen behauptet. Die diskursiven Figuren des ›nicht Integrierten‹ und des ›gut Integrierten‹ wie die institutionellen Mechanismen der Trennung und Unterordnung werden aufgegriffen, um nun die aktuellen Migrationsbewegungen sowie auch die Politik der Integration als Zumutung für diejenigen zu beschreiben, die als ›Deutsche‹ angerufen werden. Als diskursive Figur wird dabei das Verhältnis zur Migration nicht zu einer Frage der Demokratie, sondern zu einer Bedrohung, zu einem Gespenst stilisiert. Von dem geschaffenen Konsens, der bis weit in die politische Mitte der Grünen und der SPD hineinreicht, 2015 dürfe sich nicht wiederholen, ist es nur ein kleiner Schritt zur Mahnung, Migration sei die Mutter aller Probleme. Und die rechten Versuche seit der Kölner Silvesternacht 2015/16 bis zur letzten Silvesternacht, lokale Auseinandersetzungen zu einer nationalen Bedrohung hochzustilisieren und damit rassistisch zu verbrämen, bezeugen dies. Hauptrollen spielen dabei immer wieder kulturelle und religiöse Praktiken (insbesondere des Islams), die genealogisch fixiert werden, um die Differenzen zu dämonisieren und monströse Körper zu fingieren. Zugleich wird behauptet, es gebe zwar keine Rassen, aber man dürfe keine Sorge und Angst wachsen lassen und müsse die ethnischen Beziehungen kontrollieren, um dem rassistischen Verhalten keine Nahrung zu geben. Hier werden die Migrationsprozesse und eine vermeintliche Vermischung zur Ursache des Rassismus gemacht, anstatt die vermeintliche Reinheit und Existenz unterschiedlicher Ethnien und fixer Kulturen etc. in Frage zu stellen. So wird zwar nicht unbedingt direkt die Existenz von Rassen, aber doch das rassistische Verhalten als ein natürlicher, und das soll heißen unveränderlicher, Faktor proklamiert. Kurzum, wir befinden uns mitten in rassistischen Welterklärungen. Dieser Wissensproduktion wird in einer Konferenz, wie sie hier stattfindet, weiter Vorschub geleistet, indem Formeln ausgearbeitet werden, um dem bedrohlichen Gespenst von Flucht und Migration weitere Konturen zu verleihen: Sei es in der Spekulation über Kriminalität, sei es in Obsessionen mit dem generativen Verhalten und der Familienstrukturen »im Islam«, sei es in der Differenzierung zwischen Gut-Integrierten und Schlecht-Integrierten…
Dagegen bleibt es wichtig festzuhalten, und damit komme ich zum Schluss, dass der Kampf gegen diesen Rassismus keineswegs besiegt ist. Man denke etwa an die Seenotrettung, die sich trotz zunehmender Kriminalisierung weiterhin zu organisieren versucht ebenso wie an die Aktivitäten des Kampfes gegen die Grenzregime bis in die europäischen Metropolen hinein. Geht man von einem weiteren Blick aus, unter welchem es genau das nicht gibt, was die staatliche Kontrolle der Migrationsbewegungen zu behaupten hat, nämlich einen abgezirkelten geheiligten Bereich des Inneren und ein Außen der Gefahr, dann sind auch weitere politische Kämpfe in diesen Zusammenhang zu stellen – wie etwa die großen Aufstände und Demonstrationen unter dem Namen »Black Lives Matter«. Diese haben in den USA, wie es scheint, die Kräfteverhältnisse derart verschoben, dass sich hier eine Bewegung ihrer liberalen Rekuperation und Befriedung verstärkt hat, die teilweise Kompromisse nach sich zog. Wenn auch in ungleich kleinerem Maße, haben diese Aufstände in der Bundesrepublik eine Resonanz erfahren. Hier gab es, zunächst genährt von den Bildern der rassistischen Polizeigewalt, große Demonstrationen, in einigen Städten haben sich neue »Black Lives Matter«-Gruppen gegründet oder sich mit den bereits als Reaktion auf den Anschlag in Hanau am 19.02.2020 gegründeten Zusammenhängen und Gruppen wie auch bereits lange bestehenden Kräften und Organisationen verbunden. Die Amalgamierung mit der Reaktion auf Hanau scheint besonderer Betrachtung wert. Hanau markiert einen weiteren Punkt in der nicht enden wollenden Reihe rechter Gewalttaten, von den Anschlägen und Morden seit den 1980ern, den Pogromstimmungen der 1990er, der Mordserie des NSU, rassistischen Gewalttaten der Polizei und der Zunahme von Angriffen etwa auf Unterkünfte von Geflüchteten und vielen weiteren Taten, Drohungen und Mobbildungen, die sich alleine in den Jahren 2018/19 noch einmal häuften. Aber die Reaktion auf Hanau schien über die Apathie gegenüber der Spirale rechter Gewalt und der Rituale ihrer Verharmlosung hinauszuweisen: Vermehrt wird seitdem zumindest phasenweise von Rassismus gesprochen, Verharmlosungen und Verzerrungen wie Fremdenfeindlichkeit als Wörter zurückgedrängt. Darin wurde ein gesellschaftlicher Interventionsraum geöffnet, der dann mit der Resonanz auf die »Black Lives Matter«-Proteste amalgamierte, sodass ein weiteres Sprechen über Rassismus in der Luft lag. Für die Bundesrepublik lässt sich sicherlich nicht von einem Aufstand sprechen, aber zumindest von Momenten kollektiver Handlungsmacht. Die repressive Gewalt des Staates in der Polizei gelangte dabei in einen besonderen Fokus der Kritik und zog sich nicht zuletzt auch in Verbindung mit der Skandalisierung der allzu alltäglichen Polizeigewalt gegenüber sich in der Pandemie versammelnden Jugendlichen etc. über den Sommer 2020. Andere Perspektiven des Zusammenlebens konnten aber von Seiten der sich gegen den Rassismus Organisierenden noch kaum hörbar gemacht werden. Zwar ging es viel um Fragen gesellschaftlicher Repräsentation, zu selten jedoch verbanden sie sich wirkmächtig mit einer Forderung nach einer Umgestaltung der jeweils angesprochenen Institutionen im Sinne einer Teilhabe der breiten Massen, im Sinne einer wirklichen Demokratisierung, deren Gradmesser nicht zuletzt das Verhältnis zur Migration wäre. Wenn das Wort Rassismus in den weniger rechten Flügeln der Parteien bis hin zur CDU auch mittlerweile als Echo auf die gerade eben beschriebene Dynamik angekommen scheint, so findet auf dieser Ebene doch eine Verengung und Pazifizierung des Rassismusverständnisses statt. Denn hier kommen Aspekte des Rassismus, die sich nur sekundär in Diskriminierungspraktiken zeigen, kaum in den Blick, oder sie werden lediglich als Benachteiligungen bestimmter über »Identität« konzipierter Gruppen verhandelt. So wird die bestehende Gesellschaft, ob gewollt oder nicht, als unvollkommene Verwirklichung von Gleichheit, Freiheit, Demokratie etc. affirmiert. Lediglich die Rückstände, die sich in Diskriminierungen zeigen, seien noch zu überwinden. Um den gegenwärtigen Formen des Rassismus etwas Wirksameres entgegenzusetzen, ist meines Erachtens an einer radikaleren Perspektive anzusetzen. Kurzum daran, dass Rassismuskritik grundsätzlich Gesellschaftskritik heißen sollte. Denn um jene Kräfte wirksam zurückdrängen zu können, die die bestehende Gesellschaft bestimmen und entlang ihrer Vorstellungen eines »Wir« modellieren und integrieren wollen, gilt es, über die mächtigen ideologischen Rassenkonstruktionen hinweg praktische Alternativen zum Unglück der Integration in diese Gesellschaft zu entwickeln. Es ist hingegen ein Glück, dass einige das bereits tagtäglich versuchen! Wie diese Tendenzen in der gegenwärtigen Konjunktur zu stärken und auszubauen sind, kann die Theorie wohl kaum und erst recht nicht ein solcher Vortrag eines Einzelnen beantworten. Dazu bedarf es der kollektiven Anstrengung, der gemeinsamen Diskussion und Untersuchung.
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1
Für ein solches Verständnis von allgemeiner Bestimmung und besonderen Rassismen vgl. Stuart Hall: „Rasse“, Artikulation und Gesellschaften mit struktureller Dominante. In: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. 7. Aufl., Hamburg 2017, S. 89–136, insb. S. 127ff.
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2
Étienne Balibar: Die Nation-Form. Geschichte und Ideologie. In: Ders. / Immanuel Wallerstein: Rasse Klasse Nation. Ambivalente Identitäten. Berlin / Hamburg 1990, S. 107–130, hier: S. 123.
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3
Vgl. dazu und zum Folgenden Ivo Eichhorn: Einführung: Michel Pêcheux und die gegenwärtige Konjunktur des Rassismus in Deutschland. In: Michel Pêcheux: Ideologie und Diskurs. Aufsätze, hrsg. v. Ivo Eichhorn. Wien 2019, S. 7–38.
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4
Étienne Balibar: Rassismus und Krise. In: Ders. / Immanuel Wallerstein: Rasse Klasse Nation. Ambivalente Identitäten. Berlin / Hamburg 1990, S. 261–272, hier: S. 266.
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5
Vgl. zum Dispositiv der Integration als Rekuperation von Kämpfen der Migration Manuela Bojadžijev: Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration. Münster 2008.