Direkt zum Inhalt
Lenin, eine rote Fahne und der Schriftzug "Steal the Look"

Während der Rechtsradikalismus weiterhin seine rauschenden Erfolge feiert, organisiert sich die Linke weltweit neu. Unser Autor identifiziert hier in Teilen einen »Neoleninismus«, der nicht zum ersten Mal die linken Debatten um die richtige politische Strategie prägt. Mit Hans-Jürgen Krahls Einsichten aus der 68er Bewegung geht unser Autor dem »Neoleninismus« nach und identifiziert eine Dialektik der antiautoritären Bewegung, die wir gerade heute wieder analysieren sollten.
Dieser Text ist eine gekürzte Version des 2024 im Jahrbuch für marxistische Gesellschaftstheorie erschienenen Essays von Emanuel Kapfinger: »Kritik des Neoleninismus. Zur Dialektik des antiautoritären Bewusstseins«.

Für sein Buch If We Burn. The Mass Protest Decade and the Missing Revolution interviewte Vincent Bevins (2023) über 200 Personen aus zwölf Ländern, darunter zahlreiche Aktivist*innen, die die Massenproteste ab 2010 mitinitiiert hatten. Materialreich legt er dar, wie die Menschen überall auf der Welt gegen die Ungerechtigkeiten des globalisierten Kapitalismus aufbegehrten, und zeichnet präzise das radikale antiautoritäre Bewusstsein der Proteste nach. Wenn in ihnen auch nur der Anschein repräsentativer Funktionen und festerer Strukturen entstand, wiesen sie dies umgehend mit Vehemenz zurück. So entwickelte sich auf den besetzten Plätzen von Tahrir über Liberty Plaza bis Gezi eine beispiellose basisdemokratische Selbstorganisierung mit ihren unvergesslichen Erfahrungen der Solidarität. Diese präfigurative Politik war Methode: Nur wenn die Bewegung sich den Mechanismen des Bestehenden ganz grundlegend verweigerte und die Utopie schon im Akt der Revolte bewahrheiten konnte, konnte eine andere Welt möglich werden. Von Tunesien nach Syrien, von Spanien nach Brasilien breitete sich die Überzeugung aus, einen großen gemeinsamen Kampf gegen die globale Unterdrückung zu kämpfen. Überall berichteten die Aktivist*innen Bevins von jener intensiven, lebensverändernden Euphorie der Revolte, in der sich die künstlichen Abgrenzungen zwischen den Menschen aufzulösen begannen und die Protestierenden sich verschmolzen mit den Kräften der Geschichte fühlten.

Die Revolution blieb jedoch aus. Ab 2013 schlugen die Repressionsapparate mit aller Härte zu und setzten den Aufständen ein Ende. Politische Veränderungen blieben so gut wie keine, viel öfter kam es zum Gegenteil dessen, was sie sich erträumt hatten: zu einer Erneuerung des Neoliberalismus, zu Wahlsiegen der radikalen Rechten, zur Wiederetablierung von Diktatoren. Wie Bevins schildert, analysierten die Aktivist*innen diese desaströse Niederlage überall auf der Welt in der gleichen Weise: Die Massenbewegungen seien zu anarchistisch, zu strukturlos, zu kompromisslos gewesen, unfähig, auch nur beschränkte realpolitische Erfolge einzulösen. Statt der überdimensionierten Phantasie einer unmittelbaren radikalen Weltveränderung bräuchte es ein organisiertes und strategisches Vorgehen. Kollektive Aktionen müssten koordiniert durchgeführt werden, reale bleibende Veränderungen durch Verhandlungen und Kompromisse erzielt werden. Es gelte, die leninistische Tradition wiederaufzugreifen, so Bevins (2023, S. 266).

Auch in Deutschland erlebten wir in diesen Jahren eine Hochphase antiautoritärer Proteste, nicht zuletzt die Bildungsproteste, die Occupy-Bewegung, die Blockupy-Mobilisierungen. Und auch hier entwickelten sich in und aus dieser Linken, für die es sich von selbst verstand, antiautoritär zu sein, leninistische Tendenzen, die seit etwa 2019 als neue linke Strömung in Erscheinung treten. Sinnlich sehr eindrücklich wird dies auf den Demonstrationen zum revolutionären 1. Mai: Während die antiautoritäre Szene sich damit vom traditionellen 1. Mai der Gewerkschaften und Parteien absetzte, prägen mittlerweile Meere roter Fahnen und maskulin-diszipliniert auftretende Gruppen das Bild dieser Demonstrationen

Dieser Neoleninismus knüpft erneut an Lenin und den Leninismus an, ohne dass es eine organisatorische oder theoretische Kontinuität damit gäbe. Dass es Teile der antiautoritären Linken selbst waren, die die neoleninistische Wende vollzogen haben, hören viele Antiautoritäre nicht gern – eine nachvollziehbare Abwehrreaktion.1 Der Neoleninismus versteht sich jedoch nicht als Traditionsmarxismus, sondern als bewusstes Wiederaufgreifen einer abgebrochenen Tradition, und reagiert damit auf das Scheitern der antiautoritären Prinzipien. Dafür versucht das neoleninistische Projekt, linke Politik in drei miteinander verbundenen Aspekten zu verändern: Erstens fordert es, die Klassenpolitik und den Kampf gegen das materielle Elend wieder ins Zentrum zu rücken, statt (wie dies wahrgenommen wird) sich hauptsächlich einer individualistischen Identitätspolitik zu widmen. Zweitens soll die Arbeiter*innenklasse durch eine schlagkräftige politische Organisation, wenn nicht eine Partei, geführt werden, die das Klassenbewusstsein garantieren und Machtkämpfe zum Erfolg bringen kann. Schließlich muss entschlossen und realpolitisch effektiv gehandelt werden (und nicht zum Beispiel erst in langwierigen Plenumsdebatten ein Konsens erzielt werden, an den sich dann niemand hält). 

Zu dieser Strömung – ich beschränke mich hier auf Deutschland – gehören die vielen neuentstandenen roten Gruppen und Netzwerke, aber auch das enorm erfolgreiche Magazin Jacobin2, oder eine breite Theoriedebatte, die von Theoretiker*innen wie Andreas Malm und Bafta Sarbo vorangetrieben wird. Entsprechend hat der Neoleninismus Einfluss in den unterschiedlichsten Feldern linker Debatte und Politik, von der Antifa und der Gewerkschaftslinken über Feminismus und Antira bis hin zur Klimabewegung. Er ist dabei nicht, wie dies viele Antiautoritäre tun, mit dem Marxismus-Leninismus des Stalinismus und Maoismus zu verwechseln. Entsprechend verwende ich »Neoleninismus« auch nicht als ehrenrührig gemeinten moralischen Vorwurf. Der Neoleninismus ist ein Teil der Linken mit überaus relevanten Einsichten, an denen man nicht vorbeigehen sollte.

Dennoch ist er zu kritisieren. Dies ist umso angezeigter, als sich eine solche neoleninistische Wende schon einmal desavouierte, nachdem nämlich aus dem Zerfall einer anderen antiautoritären Bewegung – der von 1968 – die K-Gruppen entstanden waren. Diese »proletarische Wende« wurde von Hans-Jürgen Krahl3, damals Doktorand von Adorno, Vorstandsmitglied des SDS und führender Theoretiker der Studierendenbewegung, einer Kritik unterzogen, die auch für heutige Diskussionen um den Neoleninismus entscheidende Bedeutung hat. Krahl kritisierte die proletarische Wende aber nicht, indem er sich auf die Seite der antiautoritären Bewegung schlug und damit deren Probleme weiterschleppte, sondern indem er zeigte, dass es die »Dialektik des antiautoritären Bewusstseins« (Krahl 1971) selbst war, die in den Neoleninismus umschlug. Er vermochte es so, eine Alternative zu ihm zu entwickeln, die seine Impulse aufnahm, ohne die antiautoritären Prinzipien über Bord zu werfen. Krahls Kritik ist also nicht im Sinne der derzeit gängigen moralischen Denunziation4 des Neoleninismus als angeblich »regressive« und »autoritäre« Linke zu verstehen, sondern sie ist Kritik als dialektische Darstellung, wie es auch etwa Marx‘ »Kritik der politischen Ökonomie« entspricht.

Weil die neoleninistische Wende nach 1968 dem heutigen Geschehen in vielerlei Hinsicht entspricht, trifft Krahls Kritik an ihr fast identisch auf den heutigen Neoleninismus zu. Krahl analysierte die damalige autoritative Wende als kurzgeschlossene, reflexhafte Reaktion auf die Verfallsformen der 68er-Bewegung. Diese war im Laufe des Jahres 1968 in mehrere gegensätzliche Richtungen zerfallen, von denen jede ihr Verständnis von Emanzipation als das jeweils einzig richtige über das der anderen stellte. Diese »verabsolutierten Emanzipationsegoismen« waren Krahl zufolge in der antiautoritären Bewegung selbst begründet (Krahl 1971, S. 312). Denn diese war aufgrund ihrer kleinbürgerlichen Klassenbasis durch eine liberale, individualistische Empörung motiviert (ebd., S. 310), die sich gegen die Einengung individueller Bedürfnisse durch repressive Lebensbedingungen und die Verletzung liberaler Gleichheits- und Toleranznormen richtete. Ihr Protest entzündete sich etwa an der autoritären Hochschule, der repressiven Sexualmoral, Ausgrenzungsmechanismen der Öffentlichkeit und der Benachteiligung aufgrund des Geschlechts, sehr stark aber auch an der Unterdrückung des globalen Südens durch die westlichen Militärapparate, zumal im Vietnam-Krieg, die im schreienden Kontrast zur demokratischen Selbstdarstellung des Westens stand.5 Aufgrund dieser ursprünglich liberalen Motivationslage gingen unterschiedliche partikulare Emanzipationsimpulse in die Bewegung ein, die zwar nicht in einer wirklichen Gemeinsamkeit verbunden waren, zunächst aber im Schwung der Bewegung und durch eine intuitive Erkenntnis über die kapitalistische Totalität – man war »gegen das System« – zusammengehalten wurden. 

Als allerdings im Laufe des Jahres 1968 die politische Niederlage immer klarer wurde, machten sich diese partikularen Motivationen als ein »Asozialitätssyndrom« (ebd., S. 311) geltend, das von der heutigen Linken nur zu gut bekannt ist: Alle sahen den Kampf für die jeweils eigenen Vorstellungen als ausschlaggebend für die Revolution, sozusagen als Hauptwiderspruch, und die der anderen als schlecht partikular, wenn nicht gar auf dem Sprung zum Reaktionären. Da die anderen das jeweils genauso sahen, mit denen man doch in einem gemeinsamen Kampf steckte, verstrickte sich die Bewegung immer tiefer in einen offenbar unauflösbaren Streit, einen »Kleinkrieg aller gegen alle« (ebd., S. 312), der die Zusammenarbeit und Kommunikation zunehmend blockierte. Es entwickelten sich teils extreme Verfallserscheinungen, die auch der antiautoritären Linken von heute vertraut sind, darunter ein Aktionismus ohne organisatorischen und strategischen Bezug, eine unmittelbar-utopistische Freiraumideologie und ein Verlust der antikapitalistischen Totalitätskritik. 

Die antiautoritäre Bewegung müsste, so Krahl damals, selbstkritisch auf ihre eigenen Voraussetzungen reflektieren, um die Frustration über ihre Niederlage zu bewältigen. Sie könnte so zur Einsicht kommen, dass ihre Krise in der Struktur ihrer eigenen Motivation begründet war, und dass sie bestimmte Konsequenzen aus ihrem Scheitern ziehen müsste: Sie müsste Prinzipien des Klassenkampfes in ihre Strategie integrieren, auf eine organisationspraktische Stabilisierung der Bewegung hinarbeiten und ein politisches Realitätsprinzip ausbilden, das sich an Leistungs- und Erfolgskriterien orientieren kann. Weil ihr diese politische Bewältigung ihrer Niederlage nicht gelang, kam es, wie Krahl darlegt, zu kurzgeschlossenen Reaktionen, in denen antiautoritäres Bewusstsein reflexhaft in sein unvermitteltes Gegenteil umschlug und die antiautoritären Prinzipien kurzerhand als solche zum Grund für das Scheitern erklärte.

Weder antiautoritär noch leninistisch

Krahl gehört zu einer Strömung der 68er, zu der etwa auch Rudi Dutschke und Oskar Negt zu zählen sind, die weder antiautoritär noch leninistisch war. Sie trat für eine marxistische Weiterentwicklung der antiautoritären Bewegung über ihre »linksradikalistischen Kinderkrankheiten« (ebd., S. 307) hinaus ein und sah im entstehenden Neoleninismus relevante Einsichten artikuliert, wie sie auch an den antiautoritären Emanzipationsprinzipien im Grundsatz festhielt und die autoritative Wende scharf kritisierte. Krahl trug entscheidende Überlegungen zu dieser Alternative bei, die zwischen beidem vermitteln soll und die in den Folgejahren in kulturrevolutionären Theorien wie Öffentlichkeit und Erfahrung (1972) von Oskar Negt und Alexander Kluge und in Organisationsprojekten wie dem Sozialistischen Büro zum Tragen kommen sollte. An diese Ansätze, die Ende der 1970er Jahre abgebrochen sind, gälte es heute wieder anzuknüpfen.

Nach dem Zerfall der 68er-Bewegung schien der Neoleninismus als der Weg, der aus dieser Krise herausführen und die Revolution verwirklichen könnte. Sein Schicksal sollte uns Heutigen eine Lehre sein: Statt wie angekündigt eine große und schlagkräftige Partei aufzubauen, mündeten seine Bemühungen nur in zahlreiche Splittergruppen, von denen jede beanspruchte, die wahre Avantgarde des Proletariats zu sein, und die die bürgerlichen Beziehungen in teils extremer Weise wieder in Kraft setzten. Eigentlich bestanden die K-Gruppen, darin nicht sehr verschieden von der antiautoritären Bewegung, nur aus Intellektuellen, die sehr viel Energie dafür aufwandten, sich über den richtigen Weg des politischen Kampfes zu streiten.

Indem der Neoleninismus Prinzipien des Klassenkampfes, der Organisation und der Effektivität in den politischen Kampf einführt, gibt er wichtige und unabdingbare Impulse. Weil er sich jedoch pauschal gegen die antiautoritären Prinzipien kehrt und sich an einem vormals mächtig entwickelten proletarischen Klassenkampf orientiert, wird er blind für gegenwärtige Realität und unterscheidet er sich gar nicht so grundsätzlich vom antiautoritären »Anarchismus«. Wie dieser erhebt er sich mit einer höheren Einsicht über die Massen und schiebt ihnen seine eigene Vorstellung von Befreiung unter, nur dass es bei ihm keine individualistischen Bedürfnisse, sondern die »objektiven Interessen des Proletariats« sind. Seine »Machtergreifungsphantasien« (Krahl 1971, S. 290) sind ebenso überschwängliche Phantasien über die besondere Relevanz gerade des eigenen Handelns wie die des antiautoritären Bewusstseins. Beide Phantasien träumen davon, wie gerade die eigene, spektakuläre und radikale Aktion die universale Befreiung in Gang setzt, und legen sich damit wie ein imaginärer Film über die Realität. Der Neoleninismus ist am Ende nicht weniger liberal und kleinbürgerlich als das antiautoritäre Bewusstsein.

  • \ \ \ 1

    Zum empirischen Nachweis der Entstehung des Neoleninismus aus der antiautoritären Linken und zur Analyse des uneingestandenen Leninismus vgl. den ausführlichen Artikel: Kapfinger (2024).

  • \ \ \ 2

    Das Jacobin ist ein deutlicher Ausdruck des internationalen Charakters des Neoleninismus, da es aus den USA stammt, aber auch Ableger auf Italienisch, Spanisch, Portugiesisch und Deutsch hat. Es repräsentiert sicherlich eher den gemäßigten, »rechten« Flügel des Neoleninismus, eher kautskyanisch als leninistisch, wobei man sich dort aber auch auf Lenin gern bezieht. Man könnte die aktuelle Bewegung mit einigem Recht auch Neokautskyanismus nennen, weil Lenin stark von Kautsky geprägt ist, ich bleibe aber wegen der weit größeren Bedeutung Lenins bei Neoleninismus. Der Streit ist bis auf weiteres ohnehin eher scholastischer Natur, da weder ein Wahlsieg einer sozialistischen Partei noch gar ein bewaffneter Putsch in greifbarer Nähe liegt.

  • \ \ \ 3

    Weil Krahl lange Zeit aus dem Gedächtnis der kritischen Theorie verschwunden war, veranstalteten wir zu seinem 50. Todestag im Studierendenhaus der Uni Frankfurt eine Studientagung, deren Beiträge wir in diesem Sammelband veröffentlicht haben, den wir als einführende Sekundärliteratur in die Krahl-Lektüre anlegten (Gerber/Kapfinger/Volz 2022).

  • \ \ \ 4

    Als ein Beispiel von vielen »unmöglichen« Texten: Tobias Prüwer (2024). »Neue K-Gruppen: Die Avantgarde von Vorgestern. Intransparente Netzwerke, gekaperte Veranstaltungen und regressive bis antisemitische Agitation: autoritär-kommunistische Gruppen im Aufwind«, in: nd, 12.02.2024. [Online verfügbar: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1179895.autoritaer-kommunistische-gruppen-neue-k-gruppen-die-avantgarde-von-vorgestern.html.]

  • \ \ \ 5

    Damit soll nicht gesagt sein, dass ein Protest, der sich liberal motiviert, etwa aus der Ungleichbehandlung von Frauen oder Kolonisierten, falsch ist. Im Gegenteil hat er enorm wichtige gesellschaftliche Veränderungen erkämpft. Er kann dennoch nur der Anfang einer revolutionären Bewegung sein, weil er nur die Gleichheits- und Toleranznormen der bürgerlichen Gesellschaft verwirklichen will.