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Der Planet Erde, von dem Blitze ausgehen

Über mögliche Zukünfte in Alexandra Schauers Buch »Mensch ohne Welt«

Wenn wir über »mögliche Zukünfte« nachdenken, so muss zunächst die Gegenwart in den Fokus unserer Analysen rücken. Und wenn wir nun als Frankfurter*innen der kritischen Gesellschaftstheorie verpflichtet bleiben wollen, dann kommen wir um dieses Buch nicht herum: Alexandra Schauers Mensch ohne Welt. Hier gelingt eine großartige und vollumfängliche (das Buch umfasst stolze 700 Seiten) Gegenwartsdiagnose in Manier der Kritischen Gesellschaftstheorie. 

Arendt und Marx zusammenbringen?

Als Geburtsstunde und Allzweckformel der Kritischen Theorie gilt der Marxsche Satz: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt aber darauf an, sie zu verändern«. Die am Institut für Sozialforschung angestellte Autorin stellt sich dem Imperativ auf theoretische Art: Können wir die Welt noch verändern? Und wichtiger: Glauben wir (und gemeint ist das große Wir: unsere Gesellschaft der Spätmoderne) noch an die Möglichkeit der Veränderung? Der »Mensch ohne Welt«, so ließe sich die Leitidee des Buches zusammenfassen, ist eben derjenige Mensch in der Spätmoderne, dem der Sinn für die Möglichkeit, zu gestalten, abhandengekommen ist. Ohne diesen »Möglichkeitssinn« steht der Mensch ohne Welt da. Denn nur in dem Wissen um die Gestaltbarkeit der Welt, um die Möglichkeit, sich dem Faktischen und Vorhandenen nicht beugen zu müssen, liegt der weltliche Verständigungs- und Gestaltungsraum. 

In dieser Idee zeigt sich Schauers zweites tollkühnes Vorhaben: Neben der so umfänglichen Gegenwartsdiagnose möchte sie zudem zwei Theorien vereinen, die sich sonst gegensätzlich gegenüberstehen: Hannah Arendts emphatisches Verständnis des Politischen und die marxistische Ökonomiekritik. Für Arendt war entscheidend, dass Freiheit und politisches Handeln miteinander verknüpft sind: Es geht um die Möglichkeit des Neuanfangenkönnens durch gemeinsames Denken, Handeln und Urteilen. Arendts Philosophie selbst untersucht aber nicht die Gesellschaft als Ganzes. Schauer springt in diese Lücke herein und versucht »Arendts Interesse am Politischen, an der Welt als Raum gemeinsamen Handelns und Sprechens, durch eine Gesellschaftstheorie zu erden« (Schauer 2023: 626).

In Drei Akten zur Gegenwartsdiagnose

In drei Akten stellt Schauer die Gesellschaft auf die Probe und zeichnet nach, wie sich der Möglichkeitssinn zunächst als das Projekt der Moderne hervortat und in der Spätmoderne schließlich verloren geht. Die drei Analyseebenen komplettieren einander, wenn sie manchmal auch repetitiv anmuten, und liefern nach der exakten, komplexen aber nie überfordernden Geschichtsbeschreibung einen enormen Erkenntnisgewinn. Von der Renaissance geht es über die Aufklärung und die bürgerlichen Revolutionen und Klassenkämpfen bis zur heutigen Demokratiekrise, und vom frühindustriellen Kapitalismus über den Fordismus bis hin zum Neoliberalismus. Beachten sollte Leser*innen allerdings, dass die beschriebene Moderne eurozentristisch eingegrenzt ist und in den drei Akten keinerlei Anspruch erhebt, über die Westeuropäisch-Nordamerikanische Gesellschaft hinaus zu gelten.

Laut der ersten Analyseebene haben wir unser progressives Geschichtsbewusstsein verloren. Während die Moderne seit der industriellen Revolution mit einer linearen Zeitvorstellung die »ewige Wiederkehr« der Vormoderne ablöste und die Idee der Gestaltbarkeit ermöglichte, wirkt die Zeitvorstellung in der Spätmoderne nicht mehr linear auf ein Ziel (Fortschritt) ausgerichtet, sondern als »Rasender Stillstand«, in dem »nichts bleibt, wie es ist, ohne dass sich etwas Wesentliches ändert« (vgl. Rosa 2005: 436). Der Fortschrittsglaube dreht sich vom noch-nicht zu es-war-einmal (Schauer 2023: 259).

Im zweiten Schritt erklärt Schauer, wie die Spätmoderne die Öffentlichkeit entpolitisiert. Die moderne Öffentlichkeit entstand aus der bürgerlichen Idee der Autonomie, die die Frage nach legitimer Herrschaft stellte und den Absolutismus stürzte. Mit dem Aufstieg des industriellen Kapitalismus erkämpfte die »proletarische Öffentlichkeit«, sprich die Arbeiter*innenklasse, ihre Rechte und Freiheiten und beanspruchte, wie die bürgerliche Klasse zuvor, politische Mitbestimmung. Die spätmoderne Gesellschaft der Angestellten, die sich als Klasse nicht erkennt, hat hingegen die Öffentlichkeit als politischen Gestaltungsspielraum verloren und sieht sich in einem Zeitalter der »Singularitäten« (Reckwitz 2019) atomisiert und dem Ganzen machtlos ausgeliefert. Die Individuen der Spätmodernen entwickelten sich vom »Citoyen« zum »unternehmerischen Selbst« (Schauer 2023: 446). Das Schlagwort der Diagnose lautet also auf ökonomischer Ebene »Neoliberalismus« und auf politischer »There is no Alternative« (TINA).

Als dritte Analyseebene dienen die Städte: Sie sind nicht länger die Avantgardezentren von politischen Entwicklungen. Hier treffen die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten nicht mehr aufeinander – mit Gated Communities, leeren Stadtzentren und unbezahlbarem Wohnraum segregiert sich die moderne Stadt zu einem leblosen Sammelsurium von Büros im Zentrum und eingezäunten Privathäusern in der Peripherie. In den Städten zeigte und zeigt sich wie unter einem Brennglas die gesellschaftliche Wirklichkeit und für die Gegenwart gilt: »Unter den Bedingungen gesteigerter Konkurrenz und fortschreitender Atomisierung erscheint die kapitalistische Gesellschaft für die Menschen nicht nur als ein Zwangszusammenhang, dem sie ohnmächtig gegenüberstehen, sondern der zur bürgerlichen Anthropologie gehörende Kampf aller gegen alle kehrt in den Städten der Gegenwart unter verschärften Bedingungen zurück« (Schauer 2023: 570). 

Progressive oder Regressive Möglichkeiten

Am Ende sehen wir, dass in der spätmodernen Welt das Vermögen fehlt, »ganz einfach das Ganze sich vorzustellen, als etwas, das völlig anders sein könnte« (Adorno/Bloch zitiert nach Schauer 2023: 627). Wenn wir uns auf diese Diagnose einlassen, erhalten wir zwei sehr gute Vorlagen für mögliche Zukünfte. Zum einen verschärft sich wohl die drohende Prophezeiung, dass die Welt des scheinbar unverrückbaren Neoliberalismus, der TINA-Doktrin, der Klimakatastrophe und der globaltechnokratischen Einengung verstärkt wird und wir innerhalb dieser verwalteten Welt nur Schadensbegrenzung betreiben können. 

Zum anderen allerdings ist der Wille nach der Gestaltbarkeit, sprich die Suche nach dem Möglichkeitssinn, das bestimmende politische Projekt der nahen Zukunft. Wir sollten beherzigen, was der Politikwissenschaftler Möllers kürzlich über den AfD-Erfolg sagte: Gerade der Glaube an Politik mache die Partei attraktiv, also der Glaube, das Land mit politischen Mitteln verändern zu können.<a class=«footnote__citation js-footnote-citation« id=«footnoteref1_mcMykawxnzLxILesysxF9sC4mLhCCwmpmWcsi9-u68_wcjx51cvx7TD« title=«Der Wortlaut stammt aus Möllers Auftritt in dem SZ-Podcast »In aller Ruhe« vom 16. Dezember 2023: »eine wirklich attraktive Sache an der AfD… ist, dass sie tatsächlich an Politik glaubt, nicht? Also dass sie … glauben, sie könnten das Land verändern mit politischen Mitteln…«.« href=«#footnote1_mcMykawxnzLxILesysxF9sC4mLhCCwmpmWcsi9-u68_wcjx51cvx7TD«>1 Ähnlich könnten wir vielleicht auch den überraschenden EU-Wahlerfolg von VOLT erklären, die für die naive, eben deswegen attraktive Vorstellung steht, die EU tatsächlich verändern zu können.

Der Möglichkeitssinn, auch wenn er uns als »Singularitäten« im »rasenden Stillstand« abhandengekommen sein mag, strahlt nach wie vor den Glanz aus, den er seit der Aufklärungszeit verspricht. Er kann weiterhin politisch mobilisieren. Und hierin liegt eine fantastische Chance – doch auch, und das Buch umreißt diesen Themenbereich leider nicht ausführlich, die Gefahr: kann nicht der Möglichkeitssinn auch regressive Gestaltung beinhalten? Schließlich liegt eine der Gefahren der atomisierten Gesellschaft in einer »Sehnsucht nach einer Gemeinschaft, die den Anderen nicht mehr aushält.«2 Die politische Gestaltung, die nun die »Alternative« für Deutschland (den Namen sollten wir schließlich in Hinblick einer Möglichkeit der Alternative ernstnehmen) propagiert, ist faschistoid und rückschrittig. Sie suchen das bessere Leben – wenn überhaupt – in der Vergangenheit (vgl. Schauer 2023: 262). Gerade daher müssen wir wieder für mögliche Zukünfte kämpfen und den Möglichkeitssinn mit progressivem Inhalt füllen. Wir dürfen nicht der autoritären Versuchung den Gestaltungsspielraum unserer Zukunft überlassen. 

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    Der Wortlaut stammt aus Möllers Auftritt in dem SZ-Podcast „In aller Ruhe“ vom 16. Dezember 2023: „eine wirklich attraktive Sache an der AfD... ist, dass sie tatsächlich an Politik glaubt, nicht? Also dass sie ... glauben, sie könnten das Land verändern mit politischen Mitteln...".

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    So Alexandra Schauer in einem Interview über ihr Buch für ZEIT-ONLINE am 28.01.2023.