
Mit Forst gegen Forst denken
Zu Rainer Forsts sechzigstem Geburtstag erschien bei Suhrkamp eine Festschrift mit Beiträgen von internationalen Größen, die »einen Einblick in die neuesten Entwicklungen innerhalb der Kritischen Theorie geben« sollen, wie es im Werbetext von Suhrkamp heißt. Ein Blick in die Festschrift wirft Fragen auf.
In der Einleitung, die mehr Würdigung als kritische Einordnung ist und in der hauptsächlich Texte von Forst selbst zitiert werden, wird in den ersten zwei Sätzen den Anspruch formuliert, Forsts Schaffen in einer Reihe von Karl Marx und Max Horkheimer zu lesen. Denn »innerhalb dieser Tradition« habe er »einen eigenständigen Vorschlag« ausgearbeitet. Einen auffälligen Bezug auf Marx oder Horkheimer findet man jedoch in den 30 Beiträgen – mit einigen Ausnahmen – selten. Doch nehmen wir diese Setzung fürs Erste ernst. Forst schreibt »seiner eigenen Theorie dabei ein dezidiert emanzipatorisches Interesse zu«, das sich »aus der Spannung« zwischen »faktischen Gerechtfertigten und dem normativ Rechtfertigbaren auftut«. Zwar zeigt diese immanente Kritik einen Widerspruch auf, aber dieser einfache Widerspruch verbleibt auch dort auf der Ebene bürgerlicher Moraltheorien oder Politischer Theorie. Auffällig wird das gerade dort, wo darauf hingewiesen wird, dass Forst »güter- und verteilungszentrierte Sichtweisen« kritisiere. Stattdessen sehe er den »Fluchtpunkt emanzipatorischer Kämpfe und Bewegungen« in der Forderung, dass jede*r »als ebenbürtige normative Autorität« respektiert werde. Es verwundert dann auch nicht, wenn proklamiert wird, dass der Staat sich »ethisch oder weltanschaulich« neutral verhalten müsse. Von Marx, der nicht mehr dazu kam, den bürgerlichen Staat zu theoretisieren, und den Versuchen anschließend an ihn und die kritische Theorie eine materialistische Staatstheorie zu begründen, scheint Forst jedenfalls nichts wissen zu wollen – sonst müsste man die ›Neutralität‹ des Staates als liberales Phantasma abtun. Dabei werden immer – zumindest scheinbar – Motive kritischer Theorie, wie der kritisch-reflexive Anspruch, aufgerufen, doch werden dabei nicht die materiellen Grundlagen kritischer Theoriebildung reflektiert. Viel eher scheint »Forsts Bereitschaft« gemeint zu sein, sich in das »Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik« zu begeben und Rede und Antwort zu stehen.
Mit einer kritisch-materialistischen Theorie der kapitalistischen Gesellschaft im Anschluss an Marx und Horkheimer hat das dann irgendwann wenig zu tun. Gerade wenn man bedenkt, dass das Ziel kritischer Theorie ist, sich als Theorie von Herrschaft- und Ausbeutungsverhältnissen selbst überflüssig zu machen. Dies ist Rainer Forst gelungen, aber nicht aus dem Grund, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend verändert hätten, wir im Reich der Freiheit, nicht der Notwendigkeit leben, wie es Horkheimer im Sinn hatte. Nein, es scheint, dass diese Kritische Theorie Frankfurter Provenienz sich verändert hat.
Nicht mehr die kapitalistischen (Re-)Produktionsverhältnisse und ihre Überwindung stehen im Zentrum, sondern Gerechtigkeitsparadigmen, Rechtfertigungsverhältnisse und Republikanismus. Deshalb wird es Zeit, Rainer Forst als bürgerlichen Denker zu begreifen. Dies eröffnet die Möglichkeit durch und mit den sogenannten »neuesten Entwicklungen der Kritischen Theorie« – angelehnt an Marx und seiner Analyse der bürgerlichen Ökonomen im Kapital – die herrschende bürgerliche Philosophie, die sich »Kritische Theorie« nennt, aber offensichtlich mehr Bezug zu Immanuel Kant und John Rawls aufweist als zu Marx, zu kritisieren und durch sie wieder zu einer kritisch-materialistischen Theorie der kapitalistischen Gesellschaft zu gelangen. Sprich: Mit Forst gegen Forst denken. Damit es, wie es Horkheimer in einer Fußnote seines Aufsatzes »Traditionelle und kritische Theorie« formuliert, wieder heißt:
»Die kritische Theorie erklärt: es muss nicht so sein, die Menschen können das Sein ändern, die Umstände dafür sind jetzt vorhanden.«