
Der Philosoph. Habermas und wir
Zur neuen Habermas-Biografie
Aufgrund seines fortgeschrittenen Alters könnte eigentlich jedes Jahr ein Habermas-Jubiläum begangen werden, 2024 feierte der wohl weltweit meistrezipierte Philosoph und Soziologe der Gegenwart seinen 95. Geburtstag. Seine jüngsten Beiträge in der öffentlichen Debatte zur Coronapandemie, zum Nahostkonflikt oder zum Krieg in der Ukraine und mehrere Publikationen in den letzten Jahren zeigen eindrucksvoll, dass Habermas immer noch an öffentlichen wie fachlichen Diskursen teilnimmt. Bis heute hat der in Starnberg Beheimatete, politische und gesellschaftliche Debatten durch die gesamte Geschichte der Bundesrepublik geprägt. Ausgehend von dieser Prämisse baut der Kulturwissenschaftler Phillip Felsch seine Lebensbetrachtung von Habermas mit dem Titel „Der Philosoph. Habermas und Wir’’ (Propyläen: Berlin 2024) auf. Der Fokus liegt hierbei auf Habermas‹ öffentlicher Rolle im Bilde der Zeitgeschichte, sein wissenschaftliches Werk und seine internationale Rezeption hingegen werden nur am Rande behandelt.
Die Nacherzählung von Habermas‹ Karriere verläuft weitestgehend chronologisch und in Episoden. Auch wenn der Untertitel des Buches „Der Philosoph und Wir’’ lautet, müsste er eigentlich bei Felschs Herangehensweise „Der Philosoph und Ich’’ lauten. Den Rahmen der Erzählung setzen zwei Besuche des Autors bei Habermas in Starnberg im Jahr 2022 und 2023, die hier auf eine persönliche und einnehmende Art geschildert werden. Und auch an anderen Stellen nehmen Felschs persönliche Erfahrungen mit Habermas Platz ein, beispielsweise durch die gemeinsamen Wurzeln in Gummersbach. Genau diese Herangehensweise ist aber auch die große Stärke des Buches. Beispielsweise wird das Kapitel über den sogenannten „Historikerstreit’’ eingeleitet mit der Bemerkung, Felsch selbst sei noch zu jung gewesen, um die Debatte mitzuverfolgen, Tschernobyl und die Fußball-WM hätten sein Leben in diesem Jahr geprägt. Der persönliche Einwurf wirkt an dieser Stelle möglicherweise unnötig, dennoch ist das Kapitel ein Höhepunkt der Erzählung. Hier wird nicht nur die Episode selbst geschildert, sondern auch ihr Umbruchcharakter für die deutsche Debattenkultur, Habermas‹ Rolle darin und sein eigenes Selbstverständnis als Interventionist. Der „Historikerstreit’’ ist das wohl bekannteste Stichwort, das einem einfällt, wenn man nach Habermas Rolle als öffentlicher Intellektueller gefragt wird, und Felsch gelingt es auf nur zehn Seiten, die Bedeutung des Ereignisses darzustellen. Habermas wandte sich im Streit gegen die These des Historikers Ernst Nolte, welcher den Holocaust als Antwort auf den stalinistischen Terror sah. Habermas widersprach dem und festigte damit die singuläre Deutung des nationalsozialistischen Massenmordes. In einer gekonnten erzählerischen Dichte schafft es der Autor, herauszuarbeiten, welche Rolle die Debatte für Habermas Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, die Bedeutung des Streits für seine eigene Generation und für die Bundesrepublik allgemein gespielt hat. Gleichzeitig verknüpft er das Kapitel mit aktuellen Debatten wie der manchmal als „Neuen Historikerstreit’’ (Wagner 2022) betitelten Debatte um die Singularität des Vergleichs des Holocausts im Lichte der „Colonial Studies’’ und Habermas‹ Appell als Reaktion auf den Angriff der Hamas auf Israel 2023 (Felsch 2024, 128-130).
Diese Vielschichtigkeit, die sich besonders in diesem Kapitel zeigt, ist die Stärke des Buches. Gleichzeitig führt dies auch zu einer gewissen Oberflächlichkeit auf der biografischen Ebene, da der Autor immer bemüht ist, jeden Lebensabschnitt mit persönlichen Eindrücken und den Bezügen zu öffentlichen Debatten, historisch wie aktuell, zu verknüpfen. Damit ist die Lektüre aber auch immer ausgesprochen kurzweilig. Felsch gelingt es, ein lebhaftes und pointiertes Porträt von Habermas zu zeichnen. Dieses bietet für die genauen Kenner*innen des Philosophen wahrscheinlich nicht viel Neues. Passender wäre möglicherweise der Titel „Der öffentliche Intellektuelle und Wir’’, da sein philosophisches Werk nur angeschnitten wird – Habermas‹ theoretisches Vermächtnis bleibt am Rande, der Autor lässt sogar durchblicken, dass er zu diesem häufig nur schwer Zugang gefunden hat. Aber es ist eine beachtliche Leistung, über einen Mann, der seit rund sechzig Jahren eine Größe im akademischen und öffentlichen Diskurs ist, ein Buch zu schreiben, was jedem zu empfehlen ist, der einen ersten Zugang zu Habermas sucht. Die Lektüre macht Lust darauf, mehr über den Philosophen zu erfahren, und vielleicht dabei, wie der Autor selbst, Verknüpfungen zwischen seinem Schaffen und eigenen Erfahrungen zu entdecken.