
Kritische Theorie im Handgemenge
»Der nonkonformistische Intellektuelle. Von der kritischen Theorie zur Frankfurter Schule« von Alex Demirović wurde 2023 neu verlegt und mit einem neuen Nachwort versehen. Die Studie kann nicht nur als reichhaltiges Lexikon und Nachschlagewerk älterer Kritischen Theorie dienen, sondern muss als ein eigenständiger Beitrag zur Bewahrung, Erneuerung und Umarbeitung der kritischen Theorie gelesen werden.
Den roten Faden der fast 800 Seiten umfassenden Studie, so schreibt Demirović selbst, bildet die Überlegung Max Horkheimers, dass die kritische Theorie »auf die Existenz natürlicher Subjekte angewiesen ist, die sich die Theorie aneignen, sie vertreten und sie in ihrer Praxis verfolgen«. So wenig die Studie eine Intellektuellenbiografie ist, so wenig lasse sich Gesellschaftstheorie ohne die Praxis der sie vertretenen Intellektuellen begreifen. Damit insistiert Demirović – in Bezug auf Michel Foucault, aber auch den Vertreter*innen der älteren Kritischen Theorie – darauf, Vernunft als materielles Verhältnis zu verstehen. In diesem Sinne ist die Studie »gleichzeitig und vor allem auch der Gegenstand einer so verstandenen politischen Archäologie theoretischer Praxis«. »Für Horkheimer«, schreibt Demirovic im neuen Nachwort, »war Theorie eine sublimierte Form von Aggression, ein Steinwurf in die Fensterschreibe«.
»Auch insofern der Intellektuelle die Geltung von Theorie, Wahrheit und Vernunft durch eine spezifische Praxis erzeugt und reproduziert, ist er unzweifelhaft ein politischer Akteur.«
Dabei nimmt die Studie, wie es der Untertitel bereits andeutet, die Entwicklung von der kritischen Theorie zur Frankfurter Schule – von der »Dialektik der Aufklärung« von 1944 bis zum Tod Theodor W. Adornos am 6. August 1969 – in den Blick. In sieben Kapitel gegliedert setzt sie sich mit Horkheimers und Adornos theoretischen Arbeiten, den Gründen ihrer Rückkehr nach Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, der Neueröffnung des Instituts für Sozialforschung (IfS), mitsamt Lehre und empirischen Arbeiten, sowie der Etablierung des Fachs der Soziologie auseinander und bezieht dies auf ebenjene gesellschaftstheoretischen Begriffe der Wahrheitspolitik, nonkonformistischer Intellektualität und theoretischer Praxis. Zum einen wird dadurch gezeigt, wie es Horkheimer und Adorno gelang, ebenjene natürlichen Subjekte für die Fortentwicklung der Theorie zu finden. Zum anderen wird deutlich, wie es dazu kam, dass relevante Figuren der Neuen Linken ihr Selbstverständnis mit Theoremen ebenjener Form des Marxismus formulierten, was schließlich im berühmtgewordenen Bruch, dem Deutungskonflikt um Theorie und Praxis kulminierte. Trotz aller Differenzen über die Frage von Theorie und Praxis stellt Demirović heraus, dass Adorno kurz vor seinem Tod bereit war, den Impuls, der von der 68er Protestbewegung ausging, aufzunehmen.
Doch nicht nur dieser Aspekt sollte Anlass geben die anspruchsvolle theoretische Studie einer der wichtigsten linken Intellektuellen der Bundesrepublik der letzten 20 Jahre in mühevoller Kleinstarbeit durchzuarbeiten. Denn auch weiterhin hängt »die Bewahrung, die Erneuerung, die Umarbeitung einer offenen, kritisch-materialistischen Theorie der kapitalistischen Gesellschaft« an jenen Individuen, »die bereit sind, sich für die Theorie zu engagieren und jene Spannung zu ertragen, die in der Maxime enthalten ist, auf die sich Rosa Luxemburg, Antonio Gramsci und Max Horkheimer bezogen: Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.