
Café Marx
In seinem aktuellen Buch »Café Marx. Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule« widmet sich Philipp Lenhard der komplexen Geschichte des Instituts für Sozialforschung.
Das »Café Marx« war in den Jahren 1924-1930 einer der »Knotenpunkte des marxistischen und sozialistischen Verkehrs« in Frankfurt am Main und bildete das »Zentrum aller theoretischer Debatten«. Was nach Szenecafé klingt, war in Wirklichkeit ein wissenschaftliches Institut – das Institut für Sozialforschung (IfS). »Café Marx« war der liebevolle Spitzname, den die Studierenden dem Institut in seiner Anfangszeit gaben und gleichzeitig der Name, unter dem seine Gegner es als Tarneinrichtung einer kommunistischen Verschwörung verspotteten.
Auf 533 Seiten werden die Leser*innen an Orte und in Räume mitgenommen, wo die Personen anzutreffen waren, die direkt oder indirekt an der Entstehung des IfS oder der späteren Arbeit dort beteiligt waren. Neben den beiden offiziellen Institutsgebäuden vor und nach dem zweiten Weltkrieg sowie den Exil-Zweigstellen in Genf und New York, spielen unter anderem die Schützengräben des ersten Weltkriegs, ein Bahnhofshotel in Geraberg und eine Haus-WG im Taunus eine wichtige Rolle.
So erfährt man als Leser*in nicht nur wie es zur Gründung des Instituts kam, wie ganze Bibliotheken und illegale marxistische Schriften angeschafft wurden und die ersten Schritte in Richtung einer aktualisierten Kritik der politischen Ökonomie unternommen wurden. Sondern auch, wie das IfS vom »Café Marx«, wo »Links- und Rechtskommunisten, ›Versöhnler‹ und ›Trotzkisten‹, Sozialdemokraten und Anarchisten miteinander diskutieren konnten« zum »Asyl für Obdachlose« auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus wurde und sich schließlich wieder in Frankfurt etablierte.
Im Zentrum stehen hierbei das Handeln und Denken der Akteur*innen im Kontext der historischen und politischen Entwicklungen ihrer Zeit. Dabei lassen sich politische Zusammenschlüsse und langjährige Freund*innenschaften genauso verfolgen, wie Fehltritte, Konflikte und Notsituationen.
Das Buch deckt den Zeitraum von 1918 bis 2024 ab, wobei der Fokus aber deutlich auf den Jahren bis 1949 liegt. Jedes Kapitel beginnt mit einer kurzen literarischen Beschreibung einer Situation, die sich so oder so ähnlich an einem der Orte zugetragen hat. Anschließend geht Lenhard über in die verwobene Nacherzählung historischer Ereignisse, persönlicher Lebensgeschichten und theoretischer Auseinandersetzungen, die sich zu dieser Zeit rund um den jeweiligen Ort abspielten.
Auffällig ist, dass Lenhard eben nicht nur über das Wirken von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse, schreibt, welche bis heute hauptsächlich mit dem IfS und der Frankfurter Schule in Verbindung gebracht werden. Mit großer Gewissenhaftigkeit hat er auch die Biografien von linksradikalen Aktivist*innen, Verwaltungsnagestellten, Mitstreiter*innen und Bibliothekarinnen nachverfolgt und gibt diesen in seinem Buch ihren Platz.
Auch in die theoretischen Positionen Einzelner und die damit verbundenen Auseinandersetzungen wird immer wieder eingeführt. Daraus lässt sich zwar die grobe Ideengeschichte vom orthodoxen Marxismus bis zur Frankfurter Schule nachvollziehen, wichtiger scheint Lenhard jedoch auch hier die Betonung der Uneinigkeit und Unabgeschlossenheit, des Konflikts und Interdisziplinarität zu sein.
Letztendlich zeigt Lenhard in seinem Buch, was er zu Beginn ankündigt. Die Geschichte des Instituts für Sozialforschung ist nicht einfach die Geschichte eines wissenschaftlichen Instituts. Denn »[s]ie umfasst sowohl die jüdische als auch die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Geistes- wie die Wissenschaftsgeschichte, die Geschichte der Emigration und der Shoah genauso wie die des Wiederaufbaus und des Neuanfangs«.
Und nicht zuletzt ist sie die Geschichte von Menschen, die es — unter den schwierigsten Bedingungen einer kapitalistischen und faschistischen Gesellschaft, der Verfolgung, Flucht und Rückkehr — nie aufgaben, um die Anerkennung und Aktualisierung des Marxismus in Wissenschaft und Gesellschaft zu kämpfen.