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Verschiedene Keksformen

Über Schuld, Subjekt und Keksebacken

Es war noch zu Zeiten Donald Trumps, als mir zum ersten Mal dieser Trick auffiel. Ich stieß auf ihn in einem Zeitungsartikel, der klug war, aber nicht zu theoretisch, kritisch, aber nicht zu scharf und der kritisierte; Mr. Trump wurde darin sanft, aber erbarmungslos entmachtet. Welch Befriedigung! Nicht, dass Trump durch diesen Artikel vom Thron des amerikanischen Präsidenten, gleich neben diesem roten, verhängnisvollen Knopf, gestoßen worden wäre. Nein, das alles blieb zunächst bestehen, nebeneinander, Mann, Thron und Knopf. Und trotzdem verschwand für die Dauer des Artikels etwas, das eigentlich jeden noch so machtlosen Menschen umgibt. Was da verschwand, kann nicht positiv definiert werden. Nur negativ, durch das Fehlen gewisser Eigenschaften wird sie definiert: die Schuld. Für die Dauer des Artikels umgab Mr. Trump ein Hauch von Unschuld. Es war nicht jene Unschuld, die in den Falten schneeweißer Hochzeitskleider nistet. Es war die Unschuld der Schuldunfähigen. 

Nicht nur Mathe und Physik – die Schule lehrt uns weit mehr. Sie lehrt uns, schuldig zu sein. Denn Schuld will gekonnt sein und in diesem Können liegt ein entscheidender Bestandteil des Mensch-Seins. Wer dieses Können hat, wird als rationales Wesen und als selbstbestimmter Mensch gewürdigt. Zwölf Jahre Schule – ja, Gefängniszellen – sind anspruchsvoll. Denn Schuldfähigkeit ist weit mehr als nur der anklagende Zeigefinger des Staates, der sich schnell in dicke Gitterstäbe verwandelt. Wer Schuld kann, ist Subjekt. Wer Schuld nicht kann, wird zum Objekt – zum Patienten. Man kann Kinder deshalb guten Gewissens ignorieren, Patient*innen kann man ein Schlafmittel verabreichen, wenn sie stören, Psychopath*innen sperrt man weg. Aber was tun mit einem störenden Präsidenten? 

Der Artikel tat, was getan werden musste, und machte den Präsidenten im Handumdrehen zum Patienten. Mit ärztlicher Sorgfalt klopfte dieser Zeitungsartikel einen der mächtigsten Menschen der Welt sorgfältig mit den Werkzeugen der Psychoanalyse ab. Er sei Narzisst und ein Getriebener, er sei erklärbar in ungesunden Persönlichkeitsmustern, manisch. So wurde aus einem Monster ein Muster. Vom Chef zum Schaf. Was ist da passiert? Was hat es auf sich, mit diesem magischen Trick der Entschuldigung? 

Wie der Mensch die Natur von einer Gottheit in einen Gegenstand verwandelte, so verwandelte der Zeitungsartikel den Präsidenten in einen Patienten. Nicht mit pathetischen Wortschlangen, sondern mit der harten Hand wissenschaftlicher Hoheit. Definitionshoheit, der Trick, der Zauberspruch. 

Was definiert werden soll, muss aber zunächst zum Objekt werden. Es muss zum Ding werden, um von den Werkzeugen der Analyse erfasst werden zu können.

Wenn Heidegger der Wissenschaft vorwirft, dass diese das Nichts nicht erforschen wolle, dann ist zur Verteidigung der Wissenschaft vorzutragen, dass sie überhaupt keine adäquaten Werkzeuge hat, um dieses Nichts zu erforschen (so es denn ein solches gibt). »Nichts« oder »nicht« – das ist hier einerlei –, wichtig ist aber, dass etwas (oder nichts) nur soweit verstanden werden kann, wie es die Werkzeuge vermögen. Es kann nur soweit definiert werden, wie die Definitionsformeln der Definierenden greifen. Eine Analyse zeigt nur, was in ihrem Blickfeld liegt, und im Blickfeld desjenigen, der die Ergebnisse auswertet. Eine Kette von Limitationen und Beschränkungen. Was darüber hinaus geht, bleibt unbegriffen. Die Definition selbst wird zur Beschränkung, ihre Reichweite zu Blickschranken. An ihren Wortgrenzen sind Schnittkanten, Skalpelle der sezierenden Analyst*innen. So wird das Objekt gestutzt und zurechtgeschnitten. Es sind Analysen wie Keksförmchen, sie stanzen aus der Substanz.

Wissenschaft bedarf keiner Rechtfertigung, Neugierde ebenso wenig und dass wir uns gegenseitig analysieren wollen also auch nicht. Wie steht es aber, wenn zentrale Amtsträger*innen in ihrer Zurechenbarkeit reduziert werden durch Psychoanalysen aus der Ferne? Wenn politische Gruppierungen anhand von Bildungsstand, psychologischen Beweggründen und Gefühlsdispositionen erklärt, analysiert, skalpiert werden? Wenn das Gegenüber in zahlreichen Analysen zum Objekt verkommt, zur Keksskulptur mutiert? Wenn das Gegenüber begriffen wird, in einer übergriffigen Weise – wenn mit den Werkzeugen der Analyse zugepackt wird, grapschend oder vorsichtig tastend, um dem Gegenüber dann zu sagen, wer es ist – was ist das für ein Trick?

Auch in diesem Text, gar keine Frage, liegen Wortgrenzen wie Schnittkanten. Auch dieser Text, wie jeder Text, ist in seiner Analyse zweifelsohne ein Keksförmchen. Gestanzt wird, was gestanzt werden soll, das wird gebacken, das wird serviert. Bitteschön. 

Dass Analysen hilfreich zum gegenseitigen Verständnis sein können, ist nicht zu bezweifeln. Wenn man aber Definitionshoheit über andere an sich reißt, mit dem Seziermesser und dem Keksförmchen auf die Realität der anderen einstürmt – Dialog geht anders. Erklären kann man nur sich selbst. Dem anderen sollte man zuhören. Und dann gemeinsam Kekse backen.