Eine kleine Insel im Pazifik
und ihre Zukunft
Im Pazifik liegt eine kleine Insel. Sie hat einen sehr bekannten Namen. Doch ironischerweise ist das gar nicht der offizielle Name der Insel – ihr offizieller Name wird stattdessen häufig mit dem großen Land auf der linken Seite verwechselt. Seit der größten Flüchtlingswelle aus China nach dem Zweiten Weltkrieg dauert diese Situation an. Was könnte die Zukunft der Insel sein?
Zukunft und Vergangenheit
In den 2040er würde die kleine Insel im Pazifik, gelegen zwischen China und Japan, sämtliche Dokumente bezüglich des nach 1949 stattgefundenen Massakers öffentlich zugänglich machen. Die Statue des Hauptverantwortlichen für das Massaker würde entfernt, und sein Leichnam würde nicht länger auf Staatskosten gepflegt werden. In den 2040er hätte die indigene Bevölkerung der Insel mehr als zehn Prozent der Sitze im Parlament inne. In den folgenden Jahren würde der Staatsname geändert, und unter diesem neuen Namen würde der Staat an internationalen Organisationen und Veranstaltungen wie den Vereinten Nationen, der Weltgesundheitsorganisation, den Olympischen Spielen sowie verschiedenen Handelsabkommen teilnehmen.
Aktuell wird diese Insel von 16 indigenen Völkern, Einwanderern aus den Küstenregionen der Qing-Dynastie im 16. bis 19. Jahrhundert und deren Nachkommen (Han-Völker) sowie von nahezu 2 Millionen Geflüchteten, die 1949 aus China eingewandert sind, und deren Nachkommen (Chinesen bzw. Völker der Republik China) bewohnt.
Aufgrund der Raubzüge an dem Land und seinen Ressourcen durch die Han-Völker waren einige indigene Völker gezwungen, in die östlichen Berge zu ziehen, während andere sich den Han-Völkern und ihrer Kultur assimilierten, was zu einer drohenden Gefährdung ihrer eigenen Kultur führte. Im Jahr 1949, nach der Niederlage der Kuomintang (Nationalen Volkspartei Chinas, kurz: KMT) durch die Kommunistische Partei Chinas, flohen die KMT und Beamte der Republik China auf diese Insel, beanspruchten das Land und die Ressourcen, die zuvor den Inselbewohnern gehörten, und errichteten eine 47 Jahre andauernde autoritäre Herrschaft. Sie erklärten sowohl diese Insel und das Festland, das von der KP als »Volksrepublik China« beherrscht wurde, als zur »Republik China« gehörig. Das bedeutete, dass sie seit 1949 mit dem Namen »Republik China« kontinuierlich gegen die Volksrepublik China um den offiziellen Vertreter von »China« konkurrieren.
Während der fast fünf Jahrzehnte dauernden autoritären Herrschaft wurden im großen Masse der Inselbewohner getötet, ihre Muttersprache verboten und ihre historische Erinnerung verfälscht. Viele Menschen sahen sich gezwungen, Mandarin zu sprechen und sich als Völker der Republik China auszugeben, um zu überleben.
Vom postkolonialen und dekolonisierten zum normalisierten Staat
1971 erkannten die Vereinten Nationen die Regierung der Volksrepublik China als einzigen rechtmäßigen Vertreter Chinas an und die Republik China trat aus den Vereinten Nationen aus. Dies führte zu, dass zahlreiche Inselbewohnern die autoritäre Herrschaft der KMT anfechten. Sie gründeten Zeitungen und politische Parteien und demonstrierten, was damals alles verboten war. Unter enormem Druck der internationalen Öffentlichkeitverkündete die KMT 1987 das Ende ihrer autoritären Herrschaft. Im Jahr 1990 forderte eine große Studentenbewegung eine direkte Präsidentschaftswahl.
Im Jahr 1996 fand auf der Insel die erste Direktwahl des Präsidenten statt, und im Jahr 2000 übernahm die einheimische Regierung (Demokratische Fortschrittspartei) durch die zweite Direktwahl des Präsidenten die Macht. Dies stellte einen bedeutenden Wendepunkt für die Klärung der nationalen Identität und Geschichte der Inselbewohner dar. Immer mehr Nachkommen der Völker der Republik China, die auf dieser Insel geboren und aufgewachsen sind, haben ihre Fixierung auf das große China (d.h. die Volksrepublik China) aufgegeben und identifizieren sich zunehmend mit der Insel. Die Han-Völker begannen wieder, ihre Muttersprache zu sprechen und mussten sich nicht länger als die Völker der Republik China ausgeben, um zu überleben. Die indigenen Völker wurden nicht mehr gezwungen, den Han-Namen anzunehmen, und eine wachsende Zahl junger Indigener engagiert sich dafür, ihre Geschichte und Legenden in ihrer Stammessprache zu bewahren.
Sollte das gemeinsame Vorstellungsbild der Bürger über den Staat eine ausreichende Übereinstimmung erreichen, würde die Insel die von den Kolonialherren aufgezwungene Identität der Republik China ablegen, sich selbst bestimmen und einen eigenen Staat gründen. Durch ein Referendum könnte in einer möglichen Zukunft der offizielle Staatsname, die Flagge und die Nationalhymne neu festgelegt werden. Es wäre nicht mehr notwendig, die Unterschiede zwischen der Insel und China zu debattieren. Niemand würde mehr behaupten, diese kleine Insel im Pazifik gehöre zu China.