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Adorno zeigt Daumen hoch vor roten Sprinkeln

Die Kritische Theorie hat im offiziellen Lehrbetrieb der Universität kaum mehr einen festen Platz. Vor allem die selbstorganisierten Tutorien bewahren sie noch am Campus – doch das eröffnet Probleme: So wie den frühen Texten der Kritischen Theorie selbst, fehlt auch aktuell eine stabile kontinuierliche feministische Reflexion innerhalb der von bildungsbürgerlichen weißen Männern dominierten Lektüregruppen, argumentiert unse-re Autorin.

Kritische Theorie in der Nische

Die für die Entwicklung des kritischen Denkens so grundlegende Auseinandersetzung mit der Frankfurter Schule bzw. der Kritischen Theorie ist bekanntermaßen mehr und mehr in eine Nische an unserer Universität verdrängt worden.

Die aktuelle Nischenposition der Kritischen Theorie führt dazu, dass eine geringe Anzahl an Professorinnen, Dozentinnen und Gastwissenschaftlerinnen mit feministischer Positionierung keine stabil andauernden Seminarreihen mit ausreichend Plätzen zu intersektionaler Kritischer Theorie anbieten können. Das Seminar im Sommersemester 25 zu den Pionierinnen der Kritische Theorie von Christina Engelmann bildet hier eine erfreuliche neue Tendenz, die Theoriearbeit findet aber hauptsächlich am IfS statt. Der Weggang einzelner Professorinnen wie Sarah Speck hinterlassen eine Leerstelle in der Lehre kritischer Theorie. Die zeitlich begrenzten Lehraufträge verlangen also von Studierenden, die sich mit Kritischer Theorie und deren Weiterentwicklungen beschäftigen wollen, viel Eigenengagement. 

Unter dem Vorwand fehlender finanzieller Ressourcen wird jährlich nur eine Gastprofessur für Kritische Theorie neu besetzt. Ein stark zusammengeschrumpftes offizielles Seminarangebot mit begrenzten Plätzen führt dazu, dass die Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie für viele Studierende hauptsächlich in selbstorganisierten Tutorien stattfinden kann. 

Hierin offenbart sich auch ein weiteres Problem: Selbstorganisierte, nicht-kommodifizierte Lektüregruppen und Konferenzen werden mit viel Engagement und Zeitaufwand oftmals von weißen Männern aus bildungsbürgerlichen Schichten organisiert. Diese Tutorien stellen aber eben auch Räume der männlicher Identitäts-Bildung dar, die aufgrund der Homogenität keine Problem damit haben, ausschließlich Texte männlicher Autori*nnenschaft zu lesen. So werden meist ausschließlich die »Klassiker«-Texte der Kritischen Theorien rezipiert, die eben von weißen bildungsbürgerlichen Männern geschrieben wurden, anstatt dem Lemma des »Bringing Gender in« zu holen und Texte aus dem breiten Spektrum der Autorinnen z.B Elisabeth Lenk, Regina Becker Schmidt zu wählen, die ab den 70er Jahren diesen Fokus auf Männlichkeit kritisierten. Das zeigt sich sowohl in den Alternativen Vorlesungsverzeichnissen (AVV) der letzten Jahre als auch in zahlreichen Berichten über die Zusammensetzung solcher Gruppen. Es ist zu befürchten, dass in diesen eigeninitiativ organisierten Gruppen den von Männern dominierten Originaltexten gefolgt wird, ohne deren einseitige theoretische Subjektkonstitution aus einer gender-und race-Perspektive zu hinterfragen. 

Die Strukturkategorie Geschlecht sowie weibliche oder queere Subjektwerdung im real existierenden Kapitalismus werden in den bekannten älteren Texten der Frankfurter Schule durchweg vernachlässigt. Frauen erscheinen dort höchstens als »das Andere« oder als Trägerinnen von Natur. Auch wenn feministische Theoretikerinnen wie Becker-Schmidt, Maidorfer, Truman und Umrath die Anschlussfähigkeit dieser Texte betonen, liegt der Fokus der Originale auf männlicher, heterosexueller Subjektwerdung. Erst Marcuse und Fromm öffneten sich in spätesten Phasen ihres Forschens Themen der neuen Frauenbewegung und des Second-Wave-Feminismus.

In den frühen Texten der Kritischen Theorie bleibt das männlich-weiße Subjekt der Hauptakteur – und so perpetuiert sich das eben auch im studentischen Raum, in dem die (überwiegend männlichen) Lesegruppen die klassische Kritische Theorie sich um das Begehren der Maskulinen Subjektwerdung selbst drehen lassen. Aus der Position des kritischen, des besseren Arguments entsteht somit dann leider einen exklusive Praxis gegenueber Weiblichen FLINTA BiPoC Studierenden.

Der perpetuierte Malestream

Die Gefahr für unterkomplexes Denken besteht darin, dass die Kritische Theorie im »Malestream« als ein männlich-bildungsbürgerlich geprägtes Erkenntnisprojekt stehenbleibt. Lektürekreise und Gruppen in den AVV und Medien lassen folgende Muster erkennen:

    •       Eine Dominanz des männlichen Habitus in der Diskussion

    •       Genderblindheit bei der Auswahl von Texten und Themen, die die Erfahrungswelten des männlichen Subjekts zwischen 1920–1970 in den Mittelpunkt stellen 

    •       Mangelnde Sensibilität gegenüber den Erfahrungen von Frauen, LGBTQ+- und BiPoC-Personen sowie die Vernachlässigung von Themen, die frauenspezifisch gelesen werden, wie Trauma, Gewalt und Care-Arbeit

    •       Eine akademische Sprache, die eher zur Distinktion als zur Verständigung genutzt wird

Wenn die Theorie nicht aus diesem Zirkel ausbricht, droht sie, den Anspruch der Dialektik der Aufklärung – die Selbstaufklärung der Aufklärung – selbst zu verfehlen und in einer Nische sich selbst vergewissernder Geisteswissenschaftler steckenzubleiben.

Um zu verstehen, warum diese Verengung problematisch ist, lohnt ein Blick auf Kerntexte der Kritischen Theorie selbst. Adorno und Horkheimer entwickelten in ihrem grundlegenden Werk die Analyse, wie der Duktus der Rationalität selbst in Herrschaft umschlägt.
Fokus ihrer Kritik war der Verblendungszusammenhang: Ideologien, Mythen, kapitalistische Herrschaftsstrukturen und nicht explizit benannte Genderregime und rohe Gewalt greifen ineinander und verschleiern all die Prozesse, durch die Menschen in der kapitalistischen Vergesellschaftung gefangen bleiben und neben roher auch strukturelle und sublimierte Gewalt. 

Doch – und das ist zentral – dieser Befund blendete oftmals aus, wie Geschlecht oder koloniale Verhältnisse Teil dieses Verblendungszusammenhangs sind. Die Lebensrealität jener Menschen, die nicht dem männlich-europäischen Normsubjekt entsprachen, wurde kaum oder nur am Rande thematisiert. 

Standpunkttheorie einbringen: Reflexion der eigenen Erfahrungen

Die Diskriminierungserfahrungen von Frauen, LGBTQ+- und BiPoC-Menschen waren in der traditionellen Kritischen Theorie wenig gespiegelt – obwohl darin die Chance bestünde, feministische und internationalistische Perspektiven mit der Analyse einer Totalität zu verbinden, statt dass die diversen kritischen Theorieschulen nebeneinanderher die Situation der Welt diagnostizieren.

Eines der wichtigsten Argumente dafür, dass Lektüregruppen sich kritisch-feministischer Theorie öffnen sollten, ist die Notwendigkeit einer Erweiterung von Texten: Frauen, Lesben, LGBTQ+- und BiPoC-Personen zeigen erfahrungsgemäß besonders in feministischen Seminaren neben dem wissenschaftlichen Interesse das Bedürfnis, dass Theorien ihre Lebensrealitäten angemessen spiegeln. Sie reflektieren in der Theorie auch eigene Lebenserfahrungen und die der Eltern und Freundeskreise und die Erfahrungen von Flucht und Trauma als empirische Basis. Auch hier gibt es Anknüpfungspunkte, da fast das gesamte Personal des IfS auf der Flucht vor den Nazis in die USA übersiedeln musste.

Bei der Suche nach Theorien über die Reproduktionssphäre, Care-Arbeit, Vulnerabilität und Körperlichkeit muss man/frau jedoch vermehrt Texte der neueren Kritischen Theorie heranziehen; wer sich nur auf die traditionellen der Frankfurter Schule verlässt, wird – abgesehen von Wiederentdeckungen des Arbeitskreises Feministische Kritische Theorie am IfS – sonst enttäuscht. Faszinierend ist, dass lange vergessene Autorinnen und Theoretikerinnen wie Hilde Weiss auch aktiv feministisch intervenierten und Arbeiterinnen in Fragen des Schwangerschaftsabbruchs berieten und begleiteten.

Verdinglichung und Totalität intersektional begreifen

Der für die Theorie zentrale Begriff der »Verdinglichung« macht das deutlich. Georg Lukács beschreibt, wie Menschen innerhalb der Prozesse der Mehrwertproduktion, des Warentausches und der Unterwerfung unter die Kapitallogik zu Objekten und Funktionen ökonomischer Prozesse werden. 

Doch gerade Frauen und LGBTQ+-Personen erleben diese Verdinglichung nicht nur ökonomisch, sondern auch im Bereich von Körper, Sexualität und Care-Arbeit – Dimensionen, die die frühere Kritische Theorie kaum aus einer Subjektposition von Frauen LGTBQ+ reflektierte.

Feministische Erweiterungen machen sichtbar, dass Verdinglichung nicht nur in der aus der Lebensrealität linker Studierender entschwundenen Fabrikhalle oder bei Dienstleistungsanbietern wirkt, sondern ebenso in Familie, Liebe, Elternschaft, Mutterschaft, Gesundheitswesen und Sexualität.

Die gesellschaftliche Totalität kann nur erfasst werden, wenn auch die unbezahlte Reproduktionsarbeit, die Instrumentalisierung von Körpern und die Regulation von Intimität als Herrschaftsverhältnisse begriffen werden. Adornos Diktum »Das Ganze ist das Unwahre« markiert die Einsicht, dass in der Totalität Unterdrückungsverhältnisse verschleiert und mit Mitteln staatlicher Gewalt verankert werden. Gesellschaftliche Strukturen werden zur zweiten »Natur«. Wollen Menschen Alternativen dazu finden, brauchen sie Theorien, die die Lebensrealitäten umfassend darstellen.

Die Konzeption gesellschaftlicher Totalität bezog zwar in der Frankfurter Schule die Psychoanalyse ein, berührte jedoch Themen wie Geschlecht, »Race« und Körper als zentrale Kategorien nur am Rande. Geschlechterverhältnisse und rassistische Unterdrückung fielen sonderbarerweise aus dem System heraus – und das zeitgleich zu Feministinnen wie Clara Zetkin oder Alexandra Kollontai, zur Ermordung von Emmett Till durch einen Lynchmob in den 1930er Jahren in den USA sowie zur antikolonialen Bewegung eines Mahatma Gandhi.

Die theoretischen Verzerrungen fallen exemplarisch bei solchen Beschreibungen ins Auge wie der folgenden aus Adornos Minima Moralia:

»Die sich als Wunde fühlt, wenn sie blute233324t, weiß mehr von sich als die, welche sich als Blume vorkommt, weil das ihrem Mann in den Kram paßt. Nicht darin erst steckt die Lüge, daß Natur dort behauptet wird, wo sie geduldet und eingebaut ist, sondern was in der Zivilisation für Natur einsteht, ist seiner Substanz nach aller Natur am fernsten, das reine sich selber zum Objekt Werden. Jene Art Weiblichkeit, die auf den Instinkt sich beruft, ist stets genau das, wozu eine jegliche Frau mit aller Gewalt – mit männlicher Gewalt – sich zwingen muß: die Weibchen sind die Männchen.«

Einerseits macht allein schon die Tatsache, dass Adorno Menstruation benennt, diesen Text zu einer Art feministischer Avantgardeposition, der die Unsichtbarkeit aufhebt. Andererseits bleibt er im Denkhorizont einer von außen definierten Weiblichkeit, die Frauen zum Objekt einer Semantik der Wunde macht, ohne ihnen Subjektstatus, Widerständigkeit und den Ausgangspunkt eigenständiger Emanzipation zuzusprechen.

Becker-Schmidts feministische Kritik

Regina Becker-Schmidt (2004) zeigt die Ambivalenz dieses Denkens: Einerseits erkennt Adorno die gesellschaftliche Konstruktion von Weiblichkeit als Resultat patriarchaler Herrschaft. Andererseits verstärkt er durch die Metaphorik der »Wunde« und eine phallozentrische freudsche Psychologie einen passiven, verletzlichen Status.
Seine Analyse diagnostiziert die gesellschaftliche Prägung durch den Körper, lässt aber offen, wie Frauen aus eigener Erfahrung heraus Akte der Selbstbefreiung initiieren könnten.

Becker-Schmidt fordert deshalb: Echte emanzipatorische Theorie muss Frauen als handelnde Subjekte begreifen und ihre Erfahrungen als Ausgangspunkt für Veränderung nehmen. Nicht das Bild der verletzten Frau soll kritische Theoriebildung bestimmen, sondern der emanzipatorische Impuls aus der Reflexion auf tatsächliche weibliche Lebenslagen.

Wenn wir von gesellschaftlicher Totalität sprechen, dürfen Gender, Sexualität, Care und subalterne Unterdrückungsformen nicht länger ausgeblendet werden. Hier setzt die Notwendigkeit einer intersektionalen Erneuerung an.

Renaissance der Frankfurter Schule – durch »weibliche« Stimmen

Die Forschungen von Christina Engelmann (2024) über frühe Theoretikerinnen wie Hilde Weiss, Margarete Susman oder Gretel Adorno zeigen, dass die Geschichte kritischen Denkens pluraler war, als lange dargestellt. Die überfüllten Seminare zu diesen Themen zeigen das Bedürfnis junger Studierender, die Kritische Theorie im Sinne der gesellschaftlichen Vielfalt weiterzudenken.

Gerade im Hinblick auf die aktuellen Neuerscheinungen der letzten Jahre wäre es sinnvoll, mehr Tutorien zu veranstalten, die feministische Theorie mit Kritischer Theorie verbinden und diese von Seiten des AStA gezielt zu fördern.

Abschließend möchte ich Hannah und Max, den Organisator*innen eines Tutoriums namens »feministisch streiten«, und den anderen Teilnehmenden danken für großartige Textvorschläge und Diskussionen im Sommersemester 25, in denen Kritische Theorie und Intersektionaler Feminismus sehr inspiriert diskutiert wurden.