»Das ist [nicht] alles von der Kunstfreiheit gedeckt«: Die fragwürdige Praxis der Medienindizierung in Deutschland
Zwischen Jugendschutz und Zensur: Die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz entscheidet, welche Kunst zu gefährlich ist – und greift damit tief in die Freiheit der Kultur ein. Wie viel Kontrolle verträgt die Kunstfreiheit?
»Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.« Diese zwei kurzen Sätze in Artikel 5 des Grundgesetzes sind die Grundlage der Kunstfreiheit in Deutschland. Das klänge eigentlich nach grenzenloser Freiheit für Presse und Kunst, wäre da nicht der nächste Satz: »Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre.« Diesem einschränkenden Zusatz geht in Deutschland die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzKJ), vor 2021 noch bekannt als »Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien«. Sie verfolgt das Ziel, Medien – insbesondere jene künstlerischer Natur –, die Jugendliche gefährden könnten, zu regulieren.
In der Praxis bedeutet das Indizierung, manchmal sogar Beschlagnahmung: Filme sind dann nur eingeschränkt erhältlich, oder verschwinden gar aus dem Handel, werden aus Bibliotheken entfernt oder dürfen in der Öffentlichkeit nicht mehr beworben werden. Diese Entscheidungen sind zwar nicht der reinen Willkür überlassen, immerhin unterliegen sie einem juristischen Entscheidungsprozess, doch wie exakt die »Schutzkriterien« im Einzelfall nun ausgesehen haben, bleibt offen. Manche vormaligen Indizierungen werden revidiert, bei anderen vergleichbaren Fällen nicht. Insbesondere in Zeiten, in denen Kunst und Kultur zunehmend politisiert sind und die Kunstfreiheit von einer weltweiten autoritären Verschiebung bedroht wird, werfen solche Uneindeutigkeit und Zensur-ähnlichen Möglichkeiten Fragen auf.
2024 wurde der Film »The Evil Dead (1981), ein Klassiker des Horror-Genres, nach mehrmaligen Neuprüfungen endgültig von der Liste gestrichen. Obwohl der Film also Jahrzehnte der »Gewaltverherrlichung« wegen indiziert war, wird er nun – als sei nichts gewesen – wieder zugänglich. Doch für viele kommen solche (revidierenden) Entscheidungen zu spät: Die Indizierung, selbst wenn sie wieder aufgehoben wird, hat dem Kunstwerk rückwirkend zu viel Schaden zugefügt. So wirkt der »Jugendschutz« oder das Verbot der »Gewaltverherrlichung« wie eine Zensur-light – wie passt das noch mit dem Artikel 5 des Grundgesetzes zusammen? Kann das noch das Ziel sein?
In einem liberaldemokratischen Rechtsstaat ist die Mündigkeit der Bürger*innen ein zentrales Ideal. Dass jeder Volljährige selbst entscheiden kann, was er oder sie konsumieren möchte – ob Bücher, Filme oder andere Medien – sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Doch der deutsche Index setzt hier klare Grenzen: Werke, die »kriegsverherrlichend«, »gewaltverherrlichend« oder »jugendgefährdend« sind, dürfen höchstens unter strengen Auflagen existieren. Hierin liegt dann notwendig die Spannung, wieso der Mündigkeit der Bürger*innen und ihrer Urteilsfindung nicht so weit getraut wird, als dass die Kunstwerke frei verfügbar bleiben – zumal die Entscheidungen über die Einschränkungen ambivalent sind, wie jüngste Beispiele offenbaren.
Die Kürzliche Listenstreichung vieler Horror, Action oder Splatter Klassiker wie »Braindead« (Streichung 2025), oder der eben genannte »The Evil Dead« (Streichung 2024) lässt auf eine Kurskorrektur der BzKJ hindeuten. Werden nun die Bürger*innen für mündiger gehalten? Zugleich scheint die Kurskorrektur auch die gesamte Praxis der Indizierung aus Gründen der übermäßigen Gewalt oder Verrohung in Frage zu stellen.
Konfuse Ambivalenz
Besonders auffällig ist der Vergleich zwischen der Behandlung von Mainstream- und kleineren Nischen- oder Indie-Produktionen. Werke von Regisseuren wie Quentin Tarantino, die exzessive Gewaltdarstellungen glorreich zelebrieren, genießen internationalen Kritikerapplaus und finden sich ungeschnitten auf Streaming-Plattformen, Kinoleinwänden und in den Regalen der Vertriebe. Gleichzeitig werden Indie-Produktionen, die ähnliche oder gar weniger drastische Inhalte aufweisen, von der Indizierung getroffen. Ein prominentes Beispiel ist der inzwischen berüchtigte erste Film der Reihe »Texas Chainsaw Massacre« von 1974. Dieser, wohl zu den missverstandensten Filmen unserer Zeit zählende 70s-Slasher, schaffte es trotz kaum vorhandener expliziter Gewaltdarstellung erst 2011 von der Liste des Index – wohingegen wesentlich blutigere oder als gewaltverherrlichend verschriene Hollywood-Filme wie »Natural Born Killers« oder »Kill Bill« gar nicht erst dort landeten. Eine fragwürdige Ambivalenz.
Was gefeiert und was verboten gehört, legen also keine objektiven Kriterien fest, sondern die Prüfungsgremien, die stark vom kulturellen und gesellschaftlichen Klima mitbeeinflusst sind. Diese Ungerechtigkeit wirft die grundsätzliche Frage auf: Wer definiert, welche Gewalt »ästhetisch« und welche »jugendgefährdend« ist? Die Öffentlichkeit wird jedenfalls bei der Antwort-gebenden BzKJ nicht konsultiert. Stattdessen liegt es im subjektiven Ermessen von zwölf Personen pro Film, von denen eine Zweidrittelmehrheit zur Indizierung ausreicht und deren Urteile für Kunstbegeisterte oft kaum transparent nachvollziehbar sind. Die Intransparenz dieser Verfahren öffnet Willkür und Opportunismus Tür und Tor, und widerspricht dem Ideal einer offenen, demokratischen Gesellschaft, in der auch unangenehme Kunst ihren Platz finden muss. Gerade rückblickend erweisen sich manche Entscheidung als kaum tragbar – so wie die benannten »Texas Chainsaw Massacre« und »The Evil Dead« als wegweisende Meilensteine der Kunstgeschichte im Horror-Genre gelten, in Deutschland aber jahrzehntelang indiziert waren.
Ist ein Film auf die Liste gesetzt dauert es 25 Jahre, bis eine automatische Neuprüfung durch die BzKJ erfolgt. Ein Antrag des Urhebers auf Listenstreichung kann erst nach 30 Jahren gestellt werden. Wem diese Fristen verständlicherweise zu lang sind, bleibt als letzte Option der teure und langsame Rechtsweg, was gerade unabhängigen Filmproduktionen kaum möglich ist. Dieses starre und schwerfällige System ignoriert die Dynamik gesellschaftlichen Wandels und kultureller Entwicklungen und konserviert überholte Moralvorstellungen für ein Vierteljahrhundert – genug Zeit, um einem zeitgenössischen Kunstwerk die kulturelle Relevanz zu rauben. In einem politisierten Kunstbetrieb und von rechts vorangetriebenen Kulturkampf eine höchst entscheidende Instanz.
Natürlich wäre es zu kurz gedacht, die BzKJ rein auf ein zensierendes Feindbild für Kunstliebhaber*innen zu reduzieren. Gerade im Bereich des Schutzes vor tatsächlicher Gewalt – etwa bei der Verbreitung von Kinderpornografie, Tierquälerei oder volksverhetzenden Inhalten – erfüllt sie eine zentrale und gesellschaftlich hochrelevante Rolle nach Paragraf 5: Er schützt die Menschenwürde.
400 Liter Kunstblut
Im Bereich der Fiktion schlägt der Schutzmechanismus allerdings immer noch oft über das Ziel hinaus. Gewaltdarstellungen in Filmen sind häufig nicht Selbstzweck, sondern bewusst eingesetzte stilistische Mittel, um Gewalt zu kritisieresdn, deren Auswirkungen sichtbar zu machen oder gesellschaftliche Missstände aufzuzeigen. Jedoch ist auch Gewalt zu reinen Entertainment-Zwecken mittlerweile vollends im Mainstream angekommen, gesellschaftlich akzeptiert – und wird vielerorts nicht mal mehr hinterfragt. Wenn Tarantino in einem Interview gefragt wird, warum er so viel brutale Gewalt in seine Filme einbaut, antwortet er salopp: »Because it’s so much fun«.Hier dann noch eine Grenze zu ziehen, getreu dem Motto: »ab 400 Liter Kunstblut wird Gewalt verherrlicht«, ist pure Willkür.
Die pauschale Indizierung »zu brutaler« oder »verrohender« Werke verletzt die Kunstfreiheit und zeigt eine gefährliche Tendenz: Als Staatsorgan Kunst aus Angst vor Schock, Verrohung oder Kontroverse zu beschneiden und in ihrer Ausdrucksfreiheit einzuschränken zeichnet ein Bild einer prüden Gesellschaft und beraubt Konsument*innen sowie Künstler*innen die Freiheit, selbst zu entscheiden. Wer entscheidet, wo Kunst aufhört, und Verrohung beginnt – und das auch für mindestens ein viertel Jahrhundert? Wie viel Vertrauen bringt ein Staat seinen Bürger*innen entgegen, wenn er ihnen nicht das Recht zugesteht, frei über ihren eigenen Medienkonsum zu verfügen? Und weitergedacht: In jenen Fällen, in denen der Index nicht die Bürger*innen schützt: was schützt er dann – für wen und von wem wird er in einer hochpolitisierten Gesellschaft eingesetzt?
Positive Entwicklungen sind beobachtbar, jedoch schwerfällig. Die Umstrukturierung zur Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz im Jahr 2021 war nicht nur eine Namensänderung, sondern brachte auch ein inhaltliches Umdenken mit sich. Immer mehr ehemals indizierte Werke werden nach neuen Maßstäben geprüft und teils freigegeben – teils auch vor Ablauf der 25-Jahre-Frist. Die BzKJ zeigt sich inzwischen offener für Argumente der Filmwissenschaft und der Kunsttheorie. Dass Werke wie »Braindead« oder »Irréversible« kein Verbreitungsverbot mehr besitzen, ist ein Signal: Die Behörde ist reformfähig, und überlässt den Jugendschutz wieder mehr der »Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft« (vor allen von DVD-Hüllen bekannt als FSK).
Der deutsche Index ist ein zweischneidiges Schwert. Trotz der Umstrukturierung, die eine Offenheit für Kritik andeutete, bleibt die Behörde in ihrer strukturellen Bevorteilung von teuren Mainstream-Produktionen, in ihrer Intransparenz und in ihrer Langatmigkeit bestehen. In der Funktion, Jugend »gefährdenden« Inhalt im Keim zu ersticken, schießt der BzKJ zu häufig übers Ziel hinaus und zementieren gegenwärtige Normen und Moralvorstellungen auf Jahrzehnte. In einer Zeit, in der die Kunstfreiheit angesichts der wachsenden Tyrannei in aller Welt wichtiger und schutzbedürftiger denn je ist, müssen Konzepte wie der Index mit scharfem Blick beäugt werden.