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Taschenrechner mit der Rechnung "380 zu 6"

Unser Autor studierte sechs Jahre die Gesellschaft – Zeit für eine Rückmeldung. Keine Angst, nicht mithilfe von Noten. Sondern mit Träumen, konkreten Zahlen, Anklagen und konstruktiven Vorschlägen. Es folgt also: das Feedback auf das Feedback, das er auf seine Prüfungsleistungen erhielt.

Zunächst, langweilig, ein paar persönliche Zahlen: Seit Oktober 2019 wurden mir 300 ECTS für 7.500–9.000 Arbeitsstunden angerechnet. Ich schrieb 15 Klausuren und 15 Hausarbeiten, absolvierte einige mündliche Prüfungen und ergatterte endlose Teilnahmescheine. In der Summe ergibt das einen Bachelor, einen Master, je eine Abschlussarbeit. Glückwunsch, lieber Michel: Bald flattert dein Zeugnis in den Briefkasten. Mit hoher Grammatur, wie ich hoffe.

Mit Zahlen lässt sich bekanntlich rechnen. Also los, ein paar habe ich ja gelistet: Nimmt man 12 Seiten pro Arbeit, komme ich auf 180 Seiten Text für die Hausarbeiten. Addiert man die Abschlussarbeiten hinzu, sind es schon 280. Für die Teilnahmescheine, meist fünfseitige Essays, summiere ich weitere 100. 380 Seiten Text – ohne Literaturverzeichnis, Deckblätter und all die anderen Platzfüller. Ich könnte auf dieser Grundlage ein dickes (qualitativ äußerst fragwürdiges) Suhrkamp-Sammelbändchen publizieren. Im Anhang befänden sich noch die hunderten Seiten der Multiple-Choice-Klausuren. Bisher hat niemand angefragt, leider. Der Absatz eines solchen Büchleins tendierte wohl ohnehin gen Null. Niemand interessiert sich dafür, was ich produziere.

Wozu dieses Klagelied, denkt sich die Leserin. Niemand hat das Recht, gelesen zu werden! 

Und wozu diese prätentiöse Rechnerei? Immerhin studiert der Autor Texte, keine Formeln!

Geduld, zunächst ein weiteres Rechenspiel – diesmal die Rückmeldungen betreffend, die ich auf die 380 Seiten Text und meine endlosen Kreuze (und hektischen Klicks in Online-Prüfungen) erhielt. Rechne ich sie zusammen, komme ich auf circa sechs Seiten Text – und zwei äußerst konstruktive Gespräche. Ohne die fünf Seiten der Gutachten meiner Masterarbeit summiert sich dies, und das ist leider kein Witz, auf ganze acht Absätze. Zusammen entspricht dies einer einzigen Seite an Feedback, die – abzüglich der Masterarbeit – 280 Seiten an Textmaterial einsam entgegensteht. Bei Klausuren sah ich prinzipiell nur die Note ein. In drei Fällen erhielt ich auch auf Nachfrage kein Wort der Rückmeldung.

Worauf ich hinauswill? Auf die fehlende Rückmeldekultur in den Sozialwissenschaften deutscher Universitäten. 380 zu 6, oder 280 zu 1: ein eklatantes Missverhältnis mit schwerwiegenden Folgen. 

Zunächst lernen wir Studierende schlicht nicht(s) aus unseren Fehlern. Wir tippen fröhlich drauflos, schreiben dies und das, und niemand erfährt jemals, ob dies oder das interessant, relevant, gar richtig oder einfach nur das war, was es ausdrückt: dies und das. Sicher, könnte man entgegnen, dafür haben wir ja Noten. Ach ja, seufz, die Noten. Eine »1,7« oder eine »3,4« deuten vielleicht eine Tendenz an, aber keinesfalls mehr. Stichwort: Noteninflation (die auch ihre Vergleichsfunktion schwächt). Stichwort Anspruchsdivergenz. Stichwort Fächer- und Ortsunterschiede.

Was ich persönlich aus meinen Noten gelernt habe? Weiter so. Oder: Mach halt besser.

Einmal antwortet mir eine Dozentin auf meine E-Mail, ob ich ihr in einer Sprechstunde Fragen zu meiner Hausarbeit stellen dürfe, mit: »Na, Sie haben doch eine 1,3«. Mit einer 1,3, so deduzierte ich brav, gibt es nichts mehr zu besprechen. Dabei beenden guten Arbeiten keine Gespräche, sondern provozieren Diskussionen – oder liege ich da etwa falsch?

Dass Noten allein auch unserem berechtigten Bedürfnis nach Transparenz kaum genügen, liegt auf der Hand. Das ein oder andere Mal fühlte ich mich an Diskussionen auf dem Schulhof erinnert: »Du eine 1, ich eine 3? Skandal!« Nur, wenn unsere Dozent*innen ihre Bewertungen nachvollziehbar – ob schriftlich oder mündlich – begründen, schaffen sie Transparenz und begegnen Schulhof-Gemunkel präventiv. 

Unter uns Studierenden hat sich derweil eine Kultur verbreitet, die im Groben folgender Maxime folgt: Ein Pferd springt nur so hoch, wie es muss. Klar: Für einen Teilnahmeschein reicht eine 4,0 – wozu anstrengen, wenn die Note keinen Einfluss auf das Zeugnis hat? Warum das komplizierte Seminar wählen, wenn der alteingesessene Professor mit der 1,0 so wenig geizt wie Friedrich Merz mit neuen kreativen rassistischen Entgleisungen?

Im Übrigen: Wenn alle Studienabgänger*innen eine »Eins vor dem Komma« haben, muss sich niemand wundern, wenn man es trotz der »Eins vor dem Komma« im Berufseinstieg schwer hat. Wir alle tragen eine Teilverantwortung: wir Studierenden, weil wir zu oft den leichten Weg gehen. Die Lehrenden, weil sie uns (meist in guter Absicht) mit der Noteninflation keinen Gefallen tun. Und die Gesellschaft, weil sie ständig und seit der ersten Grundschulklasse nach Noten, Noten, Noten schreit. Und natürlich der Kapitalismus. Aber der kennt keine Selbstreflexion, der kennt Anreize.

Universitäten sollen kritisches Denken, wissenschaftliches Arbeiten und Selbstreflexion fördern. Mir ist schleierhaft, wie dieser Auftrag ohne Diskurs, ohne Austausch und ohne Rückmeldung erfüllt werden soll. Wenn sich alles um die Resultate, das Bewerten, das »Gut-Durchkommen« dreht, dann bereiten wir auch dem Missbrauch künstlicher Intelligenz den idealen Nährboden. ChatGPT schreibt oft bessere Teilnahmeleistungen als ich. (dieser Text stammt aber von mir – noch!) Ohne Reflexionspflicht, ein kurzes Gespräch etwa, scheint der Reiz – der Anreiz –, zur KI zu greifen, einfach zu groß.

So viel zu den Konsequenzen. Ich möchte nun vier Maßnahmen präsentieren, mit denen sich die Situation verbessern ließe. (Kontext, Problem, Ursachen, Ausblick – meine Methodik und ein zu falsifizierendes Ergebnis lasse ich mal unter den Tisch fallen. Trotzdem, fast wie ein Abstract! Vielleicht habe ich ja doch etwas gelernt?)

Erstens (für die Revoluzzer): Kapitalismus abschaffen.

Wenig kreativ, ich weiß. Der Zusammenhang ist offensichtlich, vielschichtig und ausführlich beschrieben (im Sammelband Organisierte Halbbildung etwa). Zwei Hinweise müssen hier genügen. Wenn zum einen das Studium vor allem aus-bilden, halb-bilden, nicht: bilden soll, gibt es keinerlei Grund, irgendetwas zu ändern. Noten erfüllen so gesehen ihren Zweck: Sie motivieren (und bestrafen), vergleichen (und quantifizieren), wählen aus (und lesen aus) und legitimieren. Wenn sich zum anderen im Wissenschaftskosmos weiterhin alles um Publikationen dreht (und ja, dies folgt aus der kapitalisierten Verlagsgesellschaft), ist es nur konsequent, dass Dozierende ihre Forschungstätigkeit priorisieren.

Zweitens (für die Wandel-durch-Handel(n)-Fraktion): Prioritäten überdenken. 

An dieser Stelle schlage ich tatsächlich eine Art Tausch vor, der vor allem die Lehrenden betrifft: Publikation gegen Gespräche. Inwiefern ist der x-te Artikel tatsächlich wertvoller als eine vernünftige Rückmeldung? Tatsächlich verstehe ich diese geläufige Priorisierung intrinsisch-motivational gesehen nicht.

Bitte nicht falsch verstehen: Weder werfe ich den Forschenden Faulheit vor noch suggeriere ich, sie interessieren sich nicht für die Lehre. Der absolute Großteil arbeitet am Limit und legt sich für uns Studierende schwer ins Zeug, insbesondere im Mittelbau.

Trotzdem frage ich mich schon, warum der ein oder andere 60-jährige, lebenslang angestellte und breitzitierte Professor mehr Sinn und Energie aus seinen Artikeln und Rezensionen zieht als in der Ausbildung der nachfolgenden Generation. Oder sich mit seinem Studiengang öffentlichkeitswirksam schmückt und dann ein einziges Blockseminar in drei Jahren anbietet. Oder zur Machttheorie forscht und dann seine Studierenden in seinen Sprechstunden einem verhörartigen Fragehagel unterzieht, ohne einen einzigen konstruktiven Vorschlag zu bereiten. 

Drittens (für die Pragmatiker): Strukturen schaffen, Rückmeldung einfordern.

Die Verantwortung liegt auch bei uns, den Studierenden. Wir müssen kollektiv mehr einfordern und selbst aktiv werden. Auch ich nahm die Möglichkeit der Sprechstunde viel zu selten wahr. Hier sind drei Vorschläge:

  1. Verbindliche Rückmeldestandards: Jede Hausarbeit erhält mindestens eine halbe Seite schriftliche Rückmeldung oder ein 15-minütiges Gespräch. Nicht optional, sondern verpflichtend.
  2. Weniger Umfang, mehr Reflexion: Statt 15 benoteter Hausarbeiten lieber acht. Statt zwei Stunden Klausur lieber eine. So bleiben Kapazitäten für die Rückmeldung.
  3. Peer-Feedback institutionalisieren: Studierende geben sich gegenseitig Rückmeldung – von der Dozentin angeleitet, strukturiert, ernsthaft. Mehr Mitgestaltung, weniger Service-Mentalität. 

Viertens (für die Verträumten): die Sinnfrage stellen. 

Abschließend eine Prise personalisierte Grundsatzpropaganda, die ich an Studierende wie Lehrende richte: Warum Geisteswissenschaften? Wozu diese 380 Seiten Text?

Mich persönlich motiviert folgendes: Ich möchte lernen, selbstständig, autonom und kritisch zu denken; das Denken selbst zu denken, vielleicht sogar ohne Geländer. Ich möchte Kompetenzen erwerben, keine Fakten von einer Gesellschaft, die sich schneller wandelt als all unsere Erhebungen. Ich erhoffe mir, mein Lese-, Text- und Sprachverständnis ebenso zu verbessern wie meine Auffassungsgabe. Ich will eine Tugend der interessierten Offenheit pflegen. In der gemeinschaftlichen Diskussion möchte ich meine Analyse- Toleranz-, und Teamfähigkeiten ausbauen. Ich will begründet negieren lernen: Ideologien, den Kapitalismus, den Sexismus, generell -Ismen aller Art. Und begründet begründen lernen: wie die normativen und faktischen Voraussetzungen der Demokratie. Und ja, natürlich erhoffe ich mir auch durch einen gut bewerteten Abschluss, Anschluss auf dem Arbeitsmarkt zu finden. 

Darum geht es doch. Nicht um sinnfreie Quantifizierungen. Deshalb schrieb ich diese 380 Seiten. (Mal mehr, mal weniger erfolgreich.) 

Und die Antwort? Acht traurige Absätze und ein Durchschnitt, den ich mir auf meinen Lebenslauf klatschen kann. Noten lassen sich vergleichen, aber sie sind kein Vergleich zu dem, was unser Studium ausmacht. Ihre Quantität frisst jede Qualität.

Ein paar Kurskorrekturen, Reflexionen und Kommata mehr und eventuell, vielleicht, ja, wenn ich mich ins Träumen, ins Hoffen und Bangen versetze, dann hätte es gar für das Suhrkamp-Sammelbändchen gereicht. 

Wobei, ehrlicherweise: ein drittes Gespräch hätte mir bereits genügt.