Wer war Reza Goldmann?
Der Holocaust, die Shoah, Genozid. Der Mord an 6 Millionen Jüdinnen und Juden hat viele Namen. Eins ist jedoch klar: Es war Mord. Systematisch durchgeführt durch die Nationalsozialisten. Durch deutsche Staatsangehörige. Frauen und Männer.
Immer mehr Zeitzeug*innen sterben. Sie sind die letzte Generation. Es sind diejenigen, die ein Vergessen durch ihr Erzählen verhindern können.
Sind wir die letzte Generation, die zuhört? Die ein Bewusstsein für den systematischen Mord an 6 Millionen Menschen schaffen kann? Die letzte Generation, die ein Vergessen verhindern kann und das Erstarken einer neuen Rechten zu stoppen vermag?
Ich habe mich zu Beginn dieser Recherche gefragt, was getan werden kann, um Vergessen zu stoppen. Gibt es digitale Möglichkeiten des Erinnerns? Und wie schafft die »letzte Generation« ein neues Denken, um verstehen zu können welche Verbrechen durch Nazi-Deutschland verübt wurden.
Der Holocaust nahm Menschenleben. Nationalsozialisten waren es, die Menschen, Jüdinnen und Juden, ihres Lebens beraubten. Ihnen die Identitäten aberkannten, sie verfolgt, entrechtet und ermordet haben.
Genau da soll diese Reportage beginnen.
Ich habe nicht das Ziel zu erklären, was nicht zu erklären ist, noch zu verstehen, was nicht verstanden werden kann.
Diese Reportage soll aufzeigen, dass sich Menschen, Identitäten, ganze Lebensgeschichten hinter dieser großen Zahl von 6 Millionen Opfern des Holocausts verbergen.
Sind wir die letzte Genration, die ein Vergessen verhindern kann?
Mit der brutalen Ermordung von Menschenleben beginnt nicht das Vergessen, sondern fängt die Erinnerung an.
Ich beginne zu forschen, zu suchen. Aber, nach was genau eigentlich?
Am 27. Januar 2023, 78 Jahre nachdem das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau von der Roten Armee befreit wird, gibt es Anschläge vor einer Synagoge auf jüdische Menschen in Israel.
Es ist internationaler Holocaust-Gedenktag.
Die Fahnen an öffentlichen Gebäuden in Deutschland wehen heute auf Halbmast. Es gibt eine Gedenkveranstaltung im deutschen Bundestag. An einem Ort, der einst instrumentalisiert wurde, um den späteren Mord an unschuldigen Menschen zu rechtfertigen.
Einige Tage vorher trifft mich eine ernüchternde Nachricht einer Umfrage, die das ZDF 2020 in Auftrag gegeben hat1: Fast jede*r vierte Deutsche wisse nicht oder nicht sicher, was der Holocaust sei. Ausschließlich 20% der Befragten wissen, dass es sich am 27. Januar um den Internationalen Gedenktag für die Opfer des Holocausts handle. Indes steigt die Anzahl antisemitischer Straftaten wieder an. Die Dunkelziffer an hinterhergerufenen Beleidigungen, Nazi-Parolen und den nicht-angezeigten Straftaten der Opfer, die sich vor dem Terror der wieder erstarkenden rechten Gruppierungen in diesem Lande fürchten, bleibt natürlich außen vor2.
Wie kann es sein, dass so viele Menschen das dunkelste Kapitel in der Geschichte des 20. Jh. Einfach vergessen haben?
Ich möchte der Frage hinterhergehen, was wirklich hinter all diesen Zahlen steckt. Wer befindet sich unter diesen 6 Millionen?
Beginnen wir mit Reza Goldmann. Sie ist eine kleine Nummer im riesigen Zahlenkonstrukt, das uns die gewaltige Dimension des Schreckens und der Brutalität des Nationalsozialistischen Regimes verdeutlichen soll.
Zu Beginn meiner Recherche weiß ich noch gar nicht so recht, wo überhaupt angefangen werden muss. Wie immer, frage ich bei Google nach. Und schon, nach nicht einmal einer Sekunde, eine Antwort. Die zentrale Datenbank der Holocaustopfer der Internationalen Holocaustgedenkstätte Yad Vashem3 entzündet einen kleinen Funken in der Dunkelheit meiner Recherche.
Heute lassen sich hier insgesamt mehr als 4 Millionen Namen online einsehen. 4 Millionen von 6 000000 Menschen, die durch das Nationalsozialistische Regime systematisch ermordet wurden.
Als das Projekt der Datenbank Anfang der 2000er Jahre begann, waren es rund 2,5 Millionen Namen, die Yad Vashem in ihrer Datenbank aufgeführt wurden. All diese Namen werden meist aus Gedenkblättern oder anderen Quellen entnommen. Wird ein Name in die Suchmaschine eingespeist, spuckt ein Algorithmus verschiedenste Schreibweisen aus. Außerdem kann auch, wie in meinem Fall, willkürlich nach Identitäten geforscht werden.
Seit der Geburt der Datenbank zum Gedenken an die Opfer des Holocausts wurden bereits viele Namen, Identitäten und Geschichten eingetragen und für die Ewigkeit digital gespeichert. Wir können uns sicher sein, dass Yad Vashem noch immer an der Identitätsfeststellung der Opfer des Holocausts arbeitet. Noch immer, 78 Jahre nach Befreiung von Auschwitz-Birkenau.
Auschwitz-Birkenau oder auch Auschwitz II genannt, war das größte deutsch angelegte Vernichtungslager im NS-Staat. Ihm vielen ca. 1 Millionen Menschen zum Opfer4. Ermordet, durch die Maschinen deutscher Vernichtungsanlagen. Erbaut, um zu morden, um Menschenleben zu beenden. Ein Konzentrationslager in Polen, in dem es nachts Minusgrade[1] werden konnten. Transporte mit deportierten Jüdinnen und Juden und weiteren verfolgten Gruppen treffen rund um die Uhr ein. Es kann immer passieren, dass die Gefangenen des Lagerkomplexes zum Zählapell auf dem Hauptplatz eintreffen müssen. Dabei tragen sie einfache Häftlingskleidung. Jede Bewegung, jedes noch so auffällige Zittern kann tödlich enden.
Ich möchte es an dieser Stelle vorwegnehmen. Auch Reza Goldmann fiel den Nazis zum Opfer, zwar nicht in Auschwitz, dafür im zweitgrößten polnischen Ghetto Litzmannstadt im deutsch besetzten Polen, dem heutigen Łódź.
Aus den Informationen der Datenbank wird ersichtlich, wo Reza Goldmann geboren und ermordet wurde. Eine weitere Suche lässt mich auf das Arolsen Archive stoßen, dessen Quellen weitere Informationen zur Rekonstruktion der Geschichte Reza Goldmanns beisteuern. Das Arolsen Archive wurde nach Ende des zweiten Weltkriegs gegründet. Aufgabe ist es bis heute, Schicksale ermordeter oder vermisster Menschen zu klären und weiter unermüdlich nach Informationen über Opfer des Holocausts zu suchen. Auch heute noch gehen jährlich bis zu 20.000 Anfragen nach Verfolgten des NS-Regimes beim Arolsen Archive ein5. Dank der Online-Suchfunktion des Archivs wird auch meine Anfrage innerhalb weniger Sekunden geklärt.
Reza Goldmann wird am 17. August 1905 geboren. Sie lebte in Frankfurt am Main und wurde am 20. Oktober 1941 nach Litzmannstadt, einem Ghetto im deutsch besetzten Polen deportiert. Der Tag ihrer Ermordung ist aus den Informationen der Datenbanken leider nicht ersichtlich. Sie wurde ermordet.
Darf auch 78 Jahre nach Befreiung des bekanntesten deutschen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau ein Schlussstrich gezogen werden? Letztendlich stoßt die Gesellschaft auf zwei »letzte Generationen«. Die eine die die Verbrechen der Nazis überlebte und die andere, die den direkten Dialog suchen kann; Ihr zuhören und für zukünftige Generationen bewahren kann. Die letzte Generation, die in den Dialog mit Zeitzeug*innen treten kann, muss sie die Erinnerung an die Schicksale jener Menschen bewahren, die dem Holocaust und der deutschen NS-Herrschaft zum Opfer fielen?
Unter den 6 Millionen Opfern des Holocausts verstecken sich Identitäten, Geschichten gar ganze Familienstammbäume und Erinnerungen an geliebte Menschen: Frauen, Männer, Mütter, Väter, Kinder, …
Die Recherche nach Reza Goldmann soll etwas zeigen: Dass sich unter einer riesigen Zahl Schicksale befinden und durch Erinnerung an Identitäten, an Menschen, auch in weiteren 78 Jahren an die brutalen Verbrechen der Nationalsozialisten erinnert werden muss und ihre Verbrechen niemals vergessen werden dürfen.
-
1
ZDF-Info Umfrage mit der Überschrift: „Ein Viertel will Abschluss mit NS- Zeit“ 05.12.2020 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/holocaust-umfrage-ns-zeit-100.html
-
2
Ebd.
-
3
Internetauftritt der zentralen Datenbank der Namen der Holocaustopfer https://yvng.yadvashem.org/index.html?language=de&s_id=&s_lastName=&s_firstName=&s_place=Frankfurt%20am%20Main&s_dateOfBirth=&cluster=true
-
4
Statistik: Gesamtanzahl der Todesopfer im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau nach Ethnie in den Jahren 1940 bis 1945 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1084820/umfrage/gesamtanzahl-der-todesopfer-in-auschwitz/
-
5
Selbsterklärung des Arolsen Archives: https://arolsen-archives.org/ueber-uns/