
Freiheit
Merkels Memoiren lesen sich so, wie sie Politik gemacht hat: unaufgeregt, bis zur Alternativlosigkeit abgewogen – und ein bisschen langweilig. Damit ihr es nicht le-sen müsst, hat sich unser Autor durch das Buch gekämpft und die Ambivalenzen, die dieses Buch aufdeckt und hinterlässt, herausgearbeitet.
In diesem Buch based on a true Story folgen wir der Ich-Erzählerin auf ihrer sagenhaften Reise. Die Protagonistin dieses Märchens wird befreit aus dem diktatorischen Eltern-Staat und findet ihre wahre Bestimmung und ihre wahre Liebe, der sie treu »dienen« wird. Wirklich glaubhaft ist diese Geschichte kaum, aber wir wissen nun alle, dass sie wahr ist: Angela Merkel wächst in der DDR, in der Kleinstadt Templin auf, studiert in Leipzig, arbeitet und promoviert als Physikerin in Berlin Adlershof. Plötzlich öffnet sich die Mauer, die Diktatur zerfällt und in ihr wächst der Wille des politischen Engagements in dieser Zeit der neuen Möglichkeiten; kurze Zeit danach (kein Jahr später) ist sie maßgeblich an der ersten und einzigen frei gewählten DDR-Regierung beteiligt, die die Wiedervereinigung vorbereitet. Anschließend wird sie für die Bundesrepublik Bundestagsabgeordnete, dann Familienministerin, dann Umweltministerin, dann Unions-Vize und schließlich die Nummer Eins in der Union. Und dann Kanzlerin. Dann nochmal, dann nochmal, und dann nochmal.
Diese fantastische Storyline ist so unglaubwürdig wie wahr. Doch die entscheidende Frage in der jetzt erschienenen Autobiographie liegt eher darin: Sind die politischen Entscheidungen und Entscheidungsprozesse, die Hinterkammergespräche, die Motive, die zufälligen Treffen und Ereignisse, in die dieses Buch Einblick verschafft, wahr? Denn glaubwürdig erscheint das Geschriebene allemal. Merkel und Beate Baumann, die Co-Autorin und langjährige wichtigste Beraterin – im Buch lernen wir sie nach knapp einem Viertel, im Jahr 1990, kennen – schreiben so, wie die Bundeskanzlerin 16 Jahre lang aufgetreten ist. Dröge, schnörkellos und markant unaufgeregt. Und wir erfahren zum Beispiel, dass eines ihrer Lieblingsessen Bouletten, Würstchen und Kartoffelsalat sind. Diese Authentizität verführt doch sehr dazu, ihnen alles genau so abzukaufen, wie es in dem Buch geschrieben steht.
Wenn sie beschreibt, dass sie einfach Deutschland dienen wollte, mit bestem Wissen und Gewissen handelte, dann glaubt man das. Ihre ersten Gedanken als Kanzlerin waren wohl, dass sie nie wieder in einem solch‹ schönen Büro sitzen würde. War das wirklich der Gedanke beim Höhepunkt ihrer politischen Macht? Ja überhaupt, kann es wirklich sein, dass sie nie einen Machthunger verspürte, sondern lediglich nach »reiflicher Überlegung« die nächste Aufgabe angenommen hat, die ihr geboten wurde?
Es liest sich doch meist so, als sei sie einem ganz normalen Job nachgegangen, mit stressigen, aber hochinteressanten Aufgaben. Mal lernt sie diese Kollegin kennen, mal jenen, die eine nervt, der andere nicht, den einen lädt sie zum Essen ein, die andere lädt sie und ihren Mann (manchmal wird auch er erwähnt) zum Essen ein. Beinahe vergessen wir dabei die globalpolitische Bedeutsamkeit, wenn sie mit George W. Bush Junior in der Uckermark oder auf einer texanischen Ranch zum Dinieren verabredet ist.
So bricht der Stil kaum zwischen ihren Erzählungen aus der Zeit in Adlershof bei der Akademie der Wissenschaften der DDR und den Jahren im Kanzleramt. Spannend bleibt es allerdings trotz des langweiligen Erzählduktus, der etwa so wirkt, als solle das Buch auch debilen Rentnern auf Rügen vorgelesen werden. Denn das Buch vermittelt ein Gefühl der »Beschwingtheit« (diese Vokabel lernt man in dem Buch). Es fasziniert anfänglich zumindest, darüber zu lesen, wie der kometenhafte politische Aufstieg möglich wurde, wie sie zur rechten Zeit am rechten Ort war, und wie das eigentlich ablief.
Der wahrgewordene Mythos des kometenhaften Aufstiegs nutzte ihr schließlich auch: Im Wahlkampf 2013 sah man den Spruch »Für ein Deutschland, in dem jeder alles werden kann« neben einem Kinderfoto der Kanzlerin. Mit Erreichen des Kanzlerstatus fällt der Spannungsbogen aber wieder ab. Wer über die politischen Geschehnisse der letzten dreißig Jahre bestens informiert ist, darf gewissenhaft das Buch nach einem Drittel beiseitelegen und verpasst nichts. Doch gerade dadurch, dass sie nicht sensationell und enthüllend schreibt, erhält das Buch auch einen Reiz, dem wir nachgehen können. Das möchte ich im Folgenden erklären.
Wie in der Öffentlichkeit bereits breit diskutiert wurde, gesteht Merkel keine politischen Fehler ein. Sie bedauert so manche Entwicklungen (Ukraine-Krieg, AfD-Aufstieg, Klimavollkatastrophe), zeigt aber keine Reue in den eigenen politischen Entscheidungen, denn diese – so wird man es immer wieder lesen – resultierten immer eben genau aus dem, was gerade möglich und nötig war.
So bewegt sich das Buch in demselben Spannungsfeld, dem womöglich auch die liberalen Demokratien weltweit ausgesetzt sind: Einerseits solle eben »alles möglich« sein – ihre Biographie als Beispiel. Andererseits bleibt meist eben nicht viel möglich, die politischen Entscheidungen seien vor allem: »alternativlos«.
Genau in dieser scheinbaren Alternativlosigkeit, die Merkel vor allem gegen die regressive Reaktion seitens der Rechten verteidigt (in Migrationspolitik, ökologischen Fragen, Coronapandemie), liegt schließlich die Crux, wie sie auch progressiv kritisch eingeordnet werden muss. Denn ihre werteorientierte Haltung und der Blick in die vermeintliche Notwendigkeit brachten politisch keine hinreichende Energiewende, keine nötige Wirtschaftswende, keine Investitionen in die Infrastruktur, keine friedliche Außenpolitik etc. hervor.1 Und der von ihr verlangte humanitäre Umgang an der EU-Außengrenze bleibt hinter einem Lob und der Betonung der Notwendigkeit von Frontex außen vor. Dieses ambivalente Erbe lässt sie zurück.
Wenn wir an die Bundesrepublik und den vermeintlichen Leitsatz »Nie Wieder« denken, muss man die bedeutsame Pressekonferenz von Merkel 2015 und den daraus resultierten Satz »Wir schaffen das« erwähnen. Dieses Zeichen der Willkommenskultur war richtig und alles andere als selbstverständlich. Es muss noch einmal erwähnt werden, dass dies auch in ihren Memoiren die zentrale Stelle einnimmt und sie von der moralischen Richtigkeit ihres Ansatzes – dem humanitären Anspruch, der damit verbunden war – nach wie vor überzeugt ist. Wir können in den Zwischenzeilen Unverständnis gegenüber der Ressentiment-Politik ihrer eigenen »Truppe« erkennen und ihre Verachtung gegenüber eigenen Kabinettsmitgliedern, die sich über die zufällige Übereinstimmung der Zahl der an einem Tag abgeschobenen Migrant*innen und der Zahl des eigenen Lebensalters erfreuen.
So enttäuscht sie uns als Leser*innen aber einmal mehr in dem Moment, da bewusst wird, dass ihre eigene Austeritätspolitik überhaupt den »Umgang« mit den ankommenden Geflüchteten zu einer Belastung der Gemeinden machte, denen die maßgeblichen Ressourcen fehl(t)en. Sie selbst zeigt zwar Freude und Dankbarkeit über die vielen hilfsbereiten Initiativen und Menschen seit ihrem »Wir schaffen das«-Satz, erkennt jedoch nicht das Problem: Das »Schaffen« verlangte das ehrenamtliche Engagement, die »Willkommenskultur«, die Hilfsbereitschaft bloß, weil keine politischen Institutionen und Maßnahmen diese Lücke füllen. Dass schließlich auch die »Willkommenskultur« abnimmt und der »zweite Teil« ihrer Amtszeit (nach 2015) von dem Erstarken der AfD begleitet wird, könnte natürlich mit den von ihr nicht beschlossenen sozialpolitischen Maßnahmen korrelieren. Das ist »bedauerlich«, aber sie zeigt kein Eingeständnis in Fehler. Und diese nachgereichte Erklärung ihrer Regierungsarbeit erstreckt sich so über alle relevanten Themen ihrer 16 Jahre langen Amtszeit. Es lohnt aber, sich diese 70 Jahre umspannende Biographie vor Augen zu führen und eben genau diese authentische Erklärung des »Wollens«, des »Könnens« und »Kompromissfindens« kritisch zu prüfen.
Dabei lesen sich die Memoiren so, wie Würstchen, Bouletten und Kartoffelsalat schmecken; ganz Okay, aber besonderen Geschmack und Glanz erlangt dieses Gericht dann, wenn es im Kanzleramt serviert wird. Und diese Memoiren werden dann besonders, wenn man sich ab und zu daran erinnert, dass sie aus den Erinnerungen der Kanzlerin a.D. geschrieben wurden – es ist letztlich »das Buch, über das die Welt redet«.
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Zuletzt ziehen auch die ihr wohlgesonnenen Financial Times und The Economist düstere Bilanzen ihrer Amtszeit. Vgl.: https://www.ft.com/content/ee6ec516-22c0-48b1-9346-5268a38234ab) und https://www.economist.com/europe/2024/10/24/angela-who-merkels-legacy-looks-increasingly-terrible