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Ein Telefonhörer vor einem gelben Dreieck

Leicht sagt sich das: »Die Zukunft ist unerreichbar«. Der Satz folgt ja aus einer klaren Wortbestimmung: »Zukunft« kommt auf Leute zu, und ist sie da, dann heißt sie »Gegenwart« und kann nicht mehr Zukunft sein.

Die Bedeutung der Wörter, die wir gebrauchen, sollten wir nicht unerklärt ändern, alles andere ist Konfusion, absichtlich unsichtbare Überredung oder Lüge. Aber Definitionen kann man präzisieren, erweitern und anderweitig ändern, wenn man’s denn per Vorschlag macht, der diskutiert werden darf. 

Ich möchte also vorschlagen, »Zukunft« nicht nur zu dem zu sagen, was erst noch kommt, sondern auch zu einem Bewusstseinszustand, der sich geschichtlich auf Handlungsimpulse hin ordnet. Dieses Bewusstsein kann ein individuelles sein, aber auch Moment einer Debatte in Kollektiven, ja ganzen Gesellschaften. Anders als ein Mensch kann ein Kollektiv dieser Art zum Beispiel sechshundert Jahre alt sein. Seine Lebensbahn ist im Fall eines besonders interessanten Kollektivs, der bürgerlichen, erst konkurrenz- und jetzt monopolkapitalistischen Gesellschaft, aufgezeichnet in Texten, die überwiegend per Druckverfahren mithilfe beweglicher Lettern auf die Mit- und Nachwelt gekommen sind. Das Verfahren, und in gewissem Sinne auch die bürgerliche Gesellschaft, gibt es tatsächlich seit etwa sechshundert Jahren. Vorher gab’s eine andere Gesellschaft, eine Weile existierte beides gleichzeitig. Wo Gesellschaftsordnungen einander abwechseln, da überschreiben ihre Zeugnisse einander in der kritischen Wechselphase oft, wie lange die auch immer währen mag. In dem Zusammenhang, der hier gemeint ist, wurde das der feudalen Ordnung von der bürgerlichen angetan.

Im »Manifest der Kommunistischen Partei« steht, dass im bürgerlichen Warenwesen die allseitige Käuflichkeit von Sachen, lebendiger Arbeit, Dienst- und sogar Denkleistungen dazu führt, dass »alles Stehende und Ständische verdampft«.

Wenn das stimmt, dann könnte die sich heute abzeichnende Beseitigung der bürgerlichen Ordnung durch etwas Schlechteres (im »gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen«, wie dasselbe Manifest sagt) oder auch (derzeit leider kaum auf der Tagesordnung) durch etwas Besseres sich angesichts des geringen, nach der Verdampfung verbliebenen Bestandes an Texten, die für alle gelten, womöglich anders vollziehen als in der Weise, die ich ein »Überschreiben« genannt habe. Vielleicht erleben wir gerade eine (derzeit von Digitalcomputertechnik formatierte) Aufprägung neuer Produktionsverhältnisse auf alte, die nicht so sehr an ein Palimpsest erinnert als an die Molekularstrahlepitaxie, mit der Schichten gewisser elektronischer Bauteile übereinandergelegt werden. 

Wie nun bringt man es in einem sozialen Prozess dieser Art zur Artikulation einer Position, die möglichst viele Menschen dazu bewegen könnte, den Prozess nicht einfach mit sich anstellen zu lassen, sondern seine Resultate gemeinsam selbst zu bestimmen? 

Dazu braucht’s, meine ich, einen Begriff von Zukunft, auf den mich eine Kollegin gebracht hat. Ich rede hier von einer deutschen Autorin, die Mitte der Siebzigerjahre des Zwanzigsten Jahrhunderts geboren wurde und jetzt, 2024, ungefähr ein halbes Jahrhundert alt ist, rund fünf Jahre jünger als ich. 

Sie weiß, dass sie in diesem Text hier vorkommt. Ich abstrahiere für seine Zwecke ein bisschen an ihr herum und anonymisiere sie, damit beim Lesen klar ist, dass sie die Überlegungen, die sie angestoßen hat, nicht verantwortet, es sind meine. 

Die Anregerin kommt aus einer kleinen Stadt, damals bewohnt von äußerstenfalls fünfzehntausend Leuten. Sie hat dort ihre ganze Kindheit und Jugend bis zum Abitur verbracht, lebt mittlerweile aber in einem urbanen Zentrum, in dem rund fünfhunderttausend Personen miteinander auskommen müssen. Sie nennt das eine »teure Verbesserung«. 

»Schon in der Grundschule war ich eine Leseratte«, sagt sie, »bald lagen mehr Bücher auf meinem Nachttisch, als ich lebendige Freundinnen und Freunde im Städtchen hatte. Und einmal stand ich in den Sommerferien in der evangelischen Stadtbibliothek allein zwischen den vielen Büchern, da fiel mir ein, dass ich selber welche schreiben will, die da dann eines Tages stehen sollten.« 

Im Heimatort gab’s keine Schriftstellerinnen und Schriftsteller, von denen sich hätte lernen lassen. Aber zur Literaturwelt der alten Bundesrepublik gehörten doch auch noch die Kleinstädte, in denen es mit Bibliotheken und Buchläden oder gar Literaturveranstaltungen inzwischen mager und düster aussieht. Weil das seinerzeit anders war, kannte sich die junge Frau in dieser Literaturwelt vom Lesen, vom Hörensagen und von Lesungsbesuchen her schließlich gut genug aus, um sich ihre Lehrerinnen und Lehrer, die ganz woanders wohnten und teils auch schon tot waren, selbst auszusuchen. 

Die größte Lehrerin, die sie so fand, ist mittlerweile fast vergessen und früh im einundzwanzigsten Jahrhundert verstorben. Sie war damals Autorin und Kleinunternehmerin, die in einem von ihr selbst mitbegründeten Verlag auch eigene Bücher publizierte. 

Der erste veröffentlichte Text meiner Kollegin, die damals gerade aus der kleinen Stadt entkommen war und in einer etwas größeren studierte, erschien in einem Sammelband, den das von ihrer Lehrerin mitgegründete Haus publizierte. Diese Lehrerin traf sie schließlich auch persönlich, da hatte sie aber schon viel von ihr gelernt, beim Lesen.

»Das Studieren habe ich aufgegeben, ohne formellen Abschluss,« sagt die Kollegin heute, »weil ich in den Arbeitszusammenhängen, in die ich durchs Schreiben kam, bald genügend kleine Jobs fand, um davon leben zu können – Neunzigerjahre halt, Übersetzen, Journalistisches, sogar Fortbildungssachen, EDV, wie man sagte, ich war ja gut mit Computern, Textverarbeitung. Und in dieser ganzen Zeit, auch vorher schon, in der kleinen Stadt, dachte ich: Die Zukunft, das ist, wenn du eines Tages sowas bist wie diese Frau mit dem Verlag, nur minus die Verlagsarbeit, denn zum sogenannten unternehmerischen Handeln habe ich keine Lust, und ich eigne mich dazu auch nicht mehr als zu der Ochsentour, mir einen akademischen Grad zu erarbeiten.«

Ich habe viel Verständnis und Sympathie dafür, wenn jemand der offiziell universitären Wissenschaft in einer Welt den Rücken kehrt, in der Konzerne, Monopole, Große Fonds und Wagniskapital bestimmen, was der Wissenschaft überhaupt für ein Wert zukommt. Ich kann auch nachvollziehen, dass jemand ebensowenig Betriebswirtschaft büffeln will wie Germanistik, weil auf dem Markt eh die besagten Geldmonster das Sagen haben. Ein akademischer Abschluss oder ein paar Geschäftskenntnisse könnten aber andererseits dabei helfen, etwaige Schlupflöcher für ein etwas weniger fremdbestimmtes Leben zu finden.

Genauso wichtig scheint mir allerdings der klar inhaltliche, nicht durch rein formales, leeres Verstreichen von Zeit bestimmte Begriff von »Zukunft«, den meine Kollegin als junge Frau mit der Bestimmung: »die Zeit, in der ich so sein werde, wie jetzt meine Lehrerin ist« gefunden hat.

Heute sagt sie: »Ich denke oft daran, dass sie damals, als sie meinen ersten Text in diesem ersten Buch gedruckt hat, sogar jünger war, als ich jetzt bin. Und jetzt Jüngere, Feministinnen, Autorinnen, Frauen, auch Männer, geben mir manchmal zu verstehen, dass ich für sie sowas bin, wie diese Frau für mich war. So falten sich die Zeiten komisch ineinander. Ich denke mir im Selbstgespräch: Du musst total aufpassen, wenn du jetzt, mit Fünfzig, über die Zukunft nicht nur nachdenkst, sondern Jüngeren sagst, wie sie wird, diese Zukunft, in Spekulationen, in Warnungen, in Versuchen, Hoffnung zu stiften oder Leute zu mobilisieren. Du musst aufpassen bis in die Sprache. Eine unbekannte Zeit, denken wir alle gern, verlangt neue Ausdrücke. Die denkst du dir dann vorwegnehmend aus, und wie es in einer Dystopie neue Wörter oder Wortkombinationen gibt der Sorte ›Zwiedenken‹ oder ›Ministerium für Wahrheit‹, so kann es ja in einer Utopie dann ein Adjektiv für die Art und Weise geben, wie Menschen zum Beispiel keine Kleider anhaben, deren Haut vielleicht wegen irgendeiner Gentechniksache direkt Sonnenenergie verarbeiten kann, und diese Leute leben in den Bäumen, in Rotholz-Mammutgewächsen und auf Seilbrücken dazwischen, statt in Bauten aus Beton und Glas, und das Adjektiv für ihre spezielle Kleiderlosigkeit, die sie davon befreit, Pflanzen oder Tiere oder Synthetisches zu essen, ist dann vielleicht ›lindnackt‹. Nur, da fragst du dich, wenn du so ein Wort erfunden hast: Was sage ich den Jüngeren damit? Gebe ich ihnen ein Ziel für ihre Politik, eine Idee von einem besseren Stoffwechsel mit der Natur, oder bloß ein Wort, das bald auch wieder nur in der Produktwerbung der Warenwirtschaft oder im Lebenshilfe-Psycho-Dressurdeutsch endet, wie ›nachhaltig‹ oder ›achtsam‹? Alles geht mit rein, gleichzeitig deine eigene Vergangenheit – du hast dich mal für Utopien und Dystopien interessiert, beim Lernen – und deren Zukunft – da bist du heute – und die Gegenwart der Jüngeren im Publikum und deren Zukunft, und deine Gegenwart jetzt. Das fühlt sich selber futuristisch an, als ob man das Leben, nicht nur das eigene, von einer Zeit aus denkt, die es noch gar nicht gibt, und nicht nur denkt, sondern wirklich erlebt.«

Diese Zeit ist eben: eine erweiterte Zukunft, eine Zukunft, die sich selbst denkt, während sie vorwegnehmend erlebt wird. 

Was für eine mögliche Zukunft wäre das aber, in der die sowohl erweiterte wie präzisierte Begriffsveränderung, die meine Kollegin dem Wort »Zukunft« da spendiert hat, nicht nur von ihrem, nicht nur von einem einzelnen Bewusstsein veranstaltet werden wird, sondern von einem großen Gesellschaftsganzen?