
Deutsche Großmachtphantasien
Überall heißt es: Deutschland soll wieder aufrüsten – sogar die (militärische) Führungsrolle in der EU übernehmen. Aber haben wir aus der Geschichte nicht auch andere Lehren zu ziehen? Unser Autor stellt sich dem »deutschen Monstrum«.
5.000 deutsche Soldaten stehen von nun an in Litauen, an der Grenze zu Belarus und der russischen Enklave Kaliningrad. Von 1941 bis 1944 war Litauen im Zuge des Ostfeldzug von der Wehrmacht besetzt, gehörte zum Reichskommissariat Ostland.
Genug der unpassenden historischen Vergleiche. Die Bundeswehr steht dort nicht bereit, um Königsberg (heute Kaliningrad), wieder zurück ins Reich zu holen, und auch die Ostfront ist eine andere. Heute freut man sich über die deutschen Truppen. Obwohl sich damals auch einige gefreut hatten, wie der Historiker Klaus Kellmann schreibt: »Spätestens vom August 1941 an hatten nationalistische, rechte, rechtsextreme litauische Gruppierungen mit der Gestapo alle Schlüsselstellungen in der Polizei, der Verwaltung und Schutzmannschaft besetzt. Drei Jahre später standen den 660 in der Zivilverwaltung tätigen Deutschen 20.000 litauische Angestellte gegenüber. Ein äußerst begehrtes gemeinsames Arbeitsfeld war die ›Liquidierung jüdischen Eigentums‘, wo den Deutschen die Kontrolle vollständig entglitt.” Insgesamt ermordete man damals 200.000 der litauischen Jüd*innen und Juden, 90 Prozent.
Deutschland: dienender (An-)Führer
Friedrich Merz, der Bundeskanzler der Bundesrepublik, dem juristischen Nachfolgestaat der NS-Diktaktur, will die »konventionell stärkste Armee” Europas aufstellen. Geld dafür hat er genug. Unbegrenzte Kredite können seit der Grundgesetzänderung aufgenommen werden, um die »Kriegstüchtigkeit” wiederherzustellen, wie dies der alte und neue Verteidigungsminister, Boris Pistorius (SPD), bereits 2024 verlautbaren ließ.
Der neue deutsche Außenminister, Johann Wadephul, will künftig der Forderung Donald Trumps nachkommen und fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), nicht des Staatshaushaltes, für Aufrüstung ausgeben. »Wir folgen ihm da«, sagte Wadephul in Richtung des US-amerikanischen Präsidenten beim NATO-Außenministertreffen im türkischen Antalya. Fünf Prozent des BIP wären nach Schätzungen 225 Milliarden Euro jährlich, also die Hälfte des deutschen Staatshaushaltes, der 2024 auf 445 Milliarden Euro beziffert wurde.
Ralf Stegner (SPD), vielleicht einer der letzten Politiker seiner Partei mit Anstand, benannte dies, richtigerweise, als »glatten Irrsinn«. Davon lässt sich aber niemand stören. Eingängiger Tenor neuer deutscher Großmachtphantasien: »Deutschland steht in der Verantwortung«. Gemeinsam mit den »europäischen Partnern” möchte man jetzt für die eigene Sicherheit sorgen, von dem globalen Hegemonen, der USA, unabhängig werden. Historische Vergleiche sind da natürlich unangebracht. Ich wiederhole mich.
Zum Glück für die herrschenden Politiker*innen wurde in den letzten drei Jahren das ideologische Fundament für die materielle Militarisierung produziert. Beispielsweise von dem politikwissenschaftlichen Koryphäe Herfried Münkler. In seinem aktuellen Buch Macht im Umbruch: Deutschlands Rolle in Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, argumentiert er dafür, dass Deutschland der »servant leader”, also dienender (An-)Führer, der Europäischen Union (EU) werden müsse, damit sich diese in der Welt behaupten kann. So sei es notwendig, dass Deutschland auch die militärische Vormachtstellung in Europa anstrebe. Natürlich zum Gemeinwohl aller.
Nie wieder Deutschland
Erneute Rückblende: Am 12. Mai 1990 demonstrierten in Frankfurt am Main 20.000 Menschen unter dem Motto »Nie wieder Deutschland«. Die Demonstration war eine der größten antinationalen Protestaktionen der deutschen Linken nach dem Zweiten Weltkrieg. Aufgerufen hatte die Radikalen Linken, ein Bündnis aus Autonomen, Ökosozialist*innen, Grünen-Abweichler*innen und kommunistischen Gruppen. Die Demonstration richtete sich gegen die geplante Wiedervereinigung, die als »Annexion der DDR« und als Wiedererstarken eines aggressiven deutschen Nationalismus verstanden wurde.
In Redebeiträgen wurde die Wiedervereinigung als Bedrohung für Europa und als Rückkehr zu imperialistischen Ambitionen kritisiert. Rainer Trampert betonte in seiner Rede, die 1990 im diskus abgedruckt wurde, dass die deutsche Geschichte eines gezeigt hätte: »Der deutsche Größenwahn wächst mit seiner materiellen Basis«. Und schlussfolgerte, dass für die Menschen auf der Welt, »ein zerhacktes Deutschland« das Beste sei. Ziel müsse es also sein, das »deutsche Monstrum« von innen zu schwächen. Es solle alle freuen, als »vaterlandslose Gesellinnen und Gesellen« gelobt zu werden. Aber zurück zur Gegenwart.
»Was jetzt zu tun ist«
Dass Deutschland eine »Führungsrolle« in der EU und der Welt einnehmen kann, ist für Münkler in seinem Buch weniger eine »Ressourcenfrage«, sondern eher eine »Mentalitätsfrage« — von deutschen Politiker*innen und »selbsterklärten ›Friedensfreunden‘«. Ein Ärgernis sei es, dass die deutschen Wähler*innen »die Populisten so stark gemacht haben, dass die Bundesrepublik die Rolle eines servant leader nicht wahrnehmen kann«. »Wo Führung fehlt, wuchert die Bürokratie; das Gestrüpp der Verordnungen und Ausnahmebestimmungen soll und muss verdecken, dass es der Union an politischer Entschlusskraft und Handlungsfähigkeit mangelt.« Deshalb brauche es einen starken Mann, ein starkes Deutschland. Münkler ist sich dabei nicht zu schade, sich auf den faschistischen Staatstheoretiker Carl Schmitt positiv zu beziehen. Wie sollte es anders sein.
Unter der Überschrift »Was jetzt zu tun ist« kulminiert Münklers Buch in realpolitischen Forderungen: Die Parteien der sogenannten bürgerlichen Mitte müssten ihre Politik den Wähler*innen besser erklären, die wirtschaftliche Dynamik in Schwung bringen und natürlich die sogenannten Verteidigungsanstrengungen erhöhen.
Bereits Münklers Buch Die neuen Kriege bezeichnete Raul Zelik als »Kampfschrift«, in der er »der Elite jene Beschreibung der Weltlage souffliert, welche die Macht benötige, um als solche zu bestehen und sich neu positionieren zu können«. Dem ist eigentlich nichts Weiteres für Macht im Umbruch hinzuzufügen. Besonders einfallsreich ist das Ganze dabei nicht. Die Gedanken der herrschenden Klasse sind eben in jeder Epoche die herrschenden Gedanken.
Die Gefahren des erstarkenden deutschen Nationalismus, der mit der Militarisierung und Deutschlands neuer Rolle in der Welt und der EU einhergeht, und wie er allseits zu beobachten ist, spielen bei Münkler keine Rolle. Dagegen bemerkte Theodor W. Adorno in einem Vortrag 1962: »Überall dort, wo man eine bestimmte Art des militanten und exzessiven Nationalismus predigt, wird der Antisemitismus automatisch mitgeliefert«. Nichts anderes geschah im vereinigten Deutschland Anfang 1990er Jahre, nichts anderes wird heute geschehen. Die Militarisierung der Gesellschaft durch die Parteien der sogenannten Mitte ist die eine Seite der Medaille, rassistische, antisemitische und queer-feindliche Gewaltexzesse und Wahlerfolge extrem rechter Parteien die andere.
Gegen die Militarisierung, die von der herrschenden Politik vorangetrieben wird, hilft nur, um es in Worten von Herbert Marcuse auszudrücken, die große Weigerung – ein organisiertes Nein zur dienenden Führerschaft und Kriegsmentalität. Damit deutsche Großmachtphantasien, auch wirklich Phantasien bleiben, muss das deutsche Monstrum von innen geschwächt werden. Dennoch bleibt darüber hinaus die historische Aufgabe, dass – angesichts der sich global verschärfender Kriegslogiken – progressive Antworten gefunden werden müssen, die über den Status-quo hinausweisen. Angesichts der Schwäche der gesellschaftlichen Linken kann dies bedeuten, dass die nächsten Jahre erst einmal heißt, die letzten Residuen der Freiheit zu verteidigen, um langfristig für etwas besseres als die Nation kämpfen zu können.