
Das liberale Denken des Faschismus
Zur Rolle kritischer Wissensproduktion in einer Konjunktur des Faschismus
Die Frage nach der Rolle der kritischen Wissensproduktion in einer Konjunktur der Faschisierung setzt verschiedene Voraussetzungen voraus. Erstens, dass wir uns tatsächlich in einer solchen Konjunktur befinden. Zweitens, dass die Kräfte, die in dieser Tendenz zur Faschisierung wirksam werden, in ihrer Struktur antagonistisch zur kritischen Wissensproduktion stehen.
Wenn das Letzte unmittelbar evident erscheint – es sei denn man ist Faschist*in — bleibt die These einer gegenwärtigen Konjunktur der Faschisierung umso fraglicher. Gerade in der Konfliktualität, die der Verwendung des Begriffs Faschismus eingeschrieben ist, zeigt sich das eigentümliche Merkmal der Begriffsgeschichte des »Faschismus« seit seiner Entstehung in Italien: Der Begriff war seit jeher Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen. Dieses Ringen um den Begriff, so zumindest meine Beobachtung, wird in den gegenwärtigen Debatten zur aktuellen Lage auffallend vermieden.
Seit dem Aufkommen dessen, was man als Neoliberalismus bezeichnet, tritt stattdessen vermehrt der Begriff des Populismus ins Zentrum der Debatte. Linke Theoretiker*innen wie Stuart Hall und Chantal Mouffe verweisen explizit auf die Möglichkeit eines populistischen (rechten) und eines progressiven (linken) Populismus.1 In diesen Begriffen steckt das lateinische Wort für Volk: Populus. Die Rede von einem populistischen und progressiven Populismus, so die These, verschränkt sich letztlich in einen Kampf um die Definitionsgewalt über das »richtige Volk«. Die Diagnosen des Populismus sind in Wahrheit Diagnosen der Demokratie – genauer: Diagnosen über Pathologien und Defizite der parlamentarisch-repräsentativen, d.h. liberalen Demokratie. Spätestens seit der Europawahl – einer Wahl, die das wirtschaftliche Hegemonieprojekt der EU repräsentiert und die somit die Definitionsmacht darüber ausübt, was offiziell zu Europa gehört und was an dessen Grenzen ertrinkt– sprechen selbst bürgerliche Medien von einem sogenannten Rechtsruck. Dieses Auftauchen des Rechtsrucks scheint ein neues Moment zu sein, das es zu verstehen gilt.
Der sogenannte Rechtsruck, der letztlich nichts anderes impliziert als ein etatistisches Verständnis von Politik und Demokratie, offenbart aufs Neue die populistische Spaltung – die Spaltung des Volkes, jedoch in einer anderen Form als es das Gerede vom Populismus tut. Wenn bürgerliche Medien von einem Rechtsruck sprechen, meinen sie damit lediglich, dass jene Partei, die in den vergangenen Jahren als alleiniger Sündenbock für sämtliche gesellschaftlichen Probleme diente und das Volk spaltete, nun bei den Wahlen an Einfluss gewinnt. Setzt man – gewiss verkürzt – die bürgerlichen Medien mit der Stimme der herrschenden Klassen gleich, so spiegelt sich darin die innere Spaltung eben dieser Klassen. Die bürgerlichen Medien artikulieren nicht nur die Spaltung des Volkes, sondern auch die Spaltung innerhalb der herrschenden Klassen selbst. Die bürgerlichen Medien artikulieren die Stimmung der Spaltung. Diese Variante des Rechtsrucks sagt: das Volk ist durch die Spalter gespalten und deshalb sind wir, die (»ordentlichen Vertreter*innen«) repräsentative Demokratie gespalten: wir können keine Politik machen. Das Gerede vom Rechtsruck verweist auf zwei zentrale Aspekte: Zum einen wird in der Rede vom Rechtsruck ein explizit benannter Sündenbock sichtbar. Alles Negative, das innerhalb der normativen Ordnung auftritt, wird auf die betreffende Partei projiziert. Die übrigen Akteur*innen des parlamentarischen Systems können sich dadurch als moralisch unbefleckt inszenieren. Zum anderen impliziert der Begriff des Rechtsrucks eine Abweichung vom Bestehenden. Die Kritik am Rechtsruck, die aus dem Spektrum der bürgerlichen Parteien kommt, drückt aus, dass sich der als ›normal‹ verstandene Lauf der Dinge verschoben hat. Diese Parteien verteidigen das Bestehende, sie agieren statisch und konservativ. Drittens aber verdeckt das Gerede vom Rechtsruck eine tiefgreifende Dynamik: die interne Faschisierung innerhalb aller anderen Parteien. War es Anfang 2024 noch das gesamte Parteienspektrum, das sich symbolisch gegen die öffentlich gewordenen Pläne über Deportationen stellte, so wird Anfang 2025 im Wahlkampf offen eine gewaltvollere Asylpolitik und ein umfassendes Abschiebeprogramm von allen Seiten gefordert.
Daneben existiert jedoch eine radikalere Variante oder Lesart des Rechtsrucks, die dessen Begriff affirmativ ausdehnt und gleichzeitig negiert. Diese radikale Lesart verneint die liberale Vorstellung, wonach der Rechtsruck auf eine oder wenige Parteien beschränkt bleibt und naturalisiert wird. Sie argumentiert vielmehr, dass sich der Rechtsruck als allgemeine Tendenz durch das gesamte politische Spektrum zieht. Sie negiert die Vorstellung eines Trends und stellt an dessen Platz eine Tendenz. Hiermit stellt sie sich gegen die liberale These der »Kanalisation«, die den Rechtsruck als Phänomen einer isolierten Partei oder kleiner Akteursgruppen beschreibt. Die radikalere Variante des Rechtsrucks negiert die Beschränkung des Rechtsrucks auf die »offizielle Politik«. Sie ist der Versuch das Politikverständnis, das in Bundestagsanalysen und Talkshows vertreten wird, zu negieren und dadurch zu überschreiten. Diese radikale Kritik, äußert ihre Nichtzustimmung, doch in dieser Verweigerung liegt ein entscheidendes Paradox: Indem sie sich gegen die bürgerliche Interpretation des Rechtsrucks wendet, artikuliert sie letztlich das Gleiche in radikalerer Form: das bröckelnde Fundament des liberalen Konsenses, der bürgerlichen Kompromisspolitik und damit der liberalen Institutionen selbst. Sie scheitert, da es ihr nicht gelingt das System der offiziellen Politik zu verlassen: sie ist Selbstaufklärung oder Selbstkorrektur innerhalb der »offiziellen Politik«.
Beide Lesarten des Rechtsrucks verbleiben fest verankert innerhalb der liberalen Institutionen oder, wie Marx es nennt, des politischen Staates. Sie thematisieren die Entgrenzung der liberalen Demokratie, aber nur, indem sie selbst die starren Grenzen des Liberalismus nicht überschreiten. Ihre Warnung – oder Diagnose – lautet: Die Demokratie wird bedroht und sie muss demokratisiert werden. Das ist sicherlich richtig und unumgänglich. Doch Demokratie zu demokratisieren bedeutet, solange man im Rahmen der liberalen Demokratie verharrt, dass der Demos, also das Volk als konstituierende Gewalt, jene entfremdete, konstituierte Gewalt oder wie Marx sagt ihre »abstrakte Verselbstständigung« wieder korrigiert.2 In der liberalen Version heißt Demokratie zu demokratisieren nichts anderes als: die Selbstkorrektur des Systems durch das Volk. Das Volk erscheint im Liberalismus jedoch immer nur in Momenten der Pathologisierung, das Volk erscheint im Liberalismus immer zu spät. Oder, um mit Gunther Teubner zu sprechen: »Es sind letztlich die Pathologien, die den konstitutionellen Moment hervorbringen«3. Für die liberale Demokratie gilt das, was Derrida prägnant auf den Punkt bringt: Die Anrufung des Demos in der liberalen Demokratie ist der Ruf nach einer unendlichen Wiederholung, ein endloser Prozess der Selbstkorrektur.4 Solange sich die Politik auf die Volkssouveränität stützt, bleibt der Populismus als Option immer gegenwärtig – eine Möglichkeit, auf die man, so oft sie zurückgewiesen wird, letztlich stets zurückkommen wird.
Im Liberalismus erscheint das Volk also immer erst nachträglich, gespalten und verschwindet, nachdem es seine Heilung oder Korrektur verbracht hat. Das Volk ist die nicht weiter begründete Voraussetzung der liberalen Politik und damit selbst nicht politisch oder Politik, sondern natürlich. Der Liberalismus ist Heroisierung des Volkes und gleichzeitig Ignoranz gegenüber dem Volk. Die liberale oder moderne Gesellschaft geht aus dem Gründungsakt, d.h. der Revolution, durch das Volk hervor und beschränkt gleichzeitig das Volk – indem sie die Individuen ermächtigt. Auf Selbstbegründung oder Selbstreflexion durch das Volk folgt Selbstbegrenzung des Volkes.
Das kann man nur angemessen denken, wenn man bedenkt, dass die repräsentativ-parlamentarische Demokratie immer eine nationalstaatliche ist. Der parlamentarischen Demokratie in ihrer nationalstaatlichen Form wohnt eine inhärente Tendenz zur (rassistischen) Ab- und Ausgrenzung inne. Diese Tendenz ist untrennbar mit der Bestimmung der Grenzen verbunden – sowohl der territorialen Grenzen als Institutionen als auch der symbolischen Grenzen, die das Volk als politische Einheit definieren. Die Selbstbeschränkung des Volkes im Moment ihrer Selbstbegründung geht immer schon mit dem naturalisierenden Ausschluss von verschiedenen Gruppen einher. Die Aufhebung innerer Grenzen, insbesondere durch die Erweiterung sozialer Inklusion mittels sozialer Rechte, geht dabei oft mit einer Stärkung der äußeren Grenzen einher. Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich einen letzten Gedanken entfalten, der uns zum Begriff des Faschismus führt, indem ich eine These von Balibar zuspitze: Für Balibar ist die Grenze als Meta-Institution die Voraussetzung für alle weiteren Institutionen der nationalstaatlichen Demokratie. Als solche stellt sie die nicht- oder gar anti-demokratische Bedingung der Demokratie dar, in der sich die Antinomien des Politischen in seiner demokratischen Form verdichten.5 Die immanente oder selbstreflexive Gründung der modernen Demokratie hat eine antidemokratische Voraussetzung: die Grenze. Die Selbstbegründung der modernen Gesellschaft ist keine immanente oder der Immanenz-Anspruch der modernen Gesellschaft verfehlt sich. Selbstreflexion heißt Bejahung seiner Begrenzung. Die Grenze ist anti-demokratisch insofern, als sie denjenigen, die ihr unterworfen sind, keine Möglichkeit bietet, ihre Regeln und ihre Verwaltung individuell oder kollektiv in Frage zu stellen und neu zu verhandeln.
Die Grenze begrenzt den Akt der unendlichen Wiederholung und Neuformierung des Demos und damit der Demokratie selbst. Sie begrenzt die Fähigkeit der liberalen Demokratie, sich durch den Demos stets aufs Neue zu korrigieren. Während diese unendliche Selbstkorrektur die Entgrenzung des Demos darstellt, ist die Grenze nicht nur eine einfache Eingrenzung, sondern eine grenzenlose Beschränkung. Demokratie bedeutet die unendliche Selbsterfindung des Demos, die unendliche Anteilnahme derjenigen, die zuvor keinen Anteil hatten, wie es Jacques Rancière ausdrückt. Doch die Grenze der Demokratie – so zumindest im liberalen Selbstverständnis – war, ist und wird immer der Faschismus sein. An dieser Schwelle versagt das liberale Denken: Es kann den Faschismus nicht aus der Perspektive der Demokratie denken. Der Faschismus bleibt für das liberale Denken undenkbar, da er nicht als immanentes Problem der Demokratie, sondern als ihr äußerer Feind aufgefasst wird. Der Liberalismus denkt, dass der Faschismus von außen reinplatzt. Doch den Faschismus muss man gerade demokratietheoretisch begreifen. Denn den Faschismus zu denken, bedeutet, ihn aus seiner Endlichkeit heraus zu begreifen.
Der Faschismus ist in letzter Konsequenz das Denken des Endlichen, das Denken des Ökonomismus. Er ist die grenzenlose Beschränkung seines eigenen Demos, die ständige Konstruktion innerer und äußerer Feinde, die er verzehren muss, um zu überleben. An die Stelle der Selbstbegrenzung des Demos setzt der Faschismus demokratisch die Grenze als unverhandelbare. Der Faschismus weiß und handelt nur aus der Perspektive der Endlichkeit: Es gibt nie genug Raum, nie genug Güter, nie genug, um allen die Teilnahme zu ermöglichen. Deshalb verzehrt der Faschismus alle, die nicht in sein Schema der Unterscheidung passen.
Das liberale Denken vermag den Faschismus nicht zu denken. Der Liberalismus kann die Faschisierung als »Prozess der Delegitimierung, dann der Zerstörung demokratischer Institutionen innerhalb der Demokratie«, wie es Jost Müller Mitte der 90er Jahre sagt, nicht denken.6 Das liegt daran, dass Politik im Liberalismus immer staatszentrierte Politik ist; der Liberalismus kann die Politisierung im Inneren der Gesellschaft nicht denken. Deshalb erscheint ihm der Faschismus als bloße Machtübernahme, als äußere Bedrohung der Institutionen. Doch der Faschismus ist – anders als Otto Bauer und August Thalheimer in den 1920er und 1930er Jahren annahmen – keine ›Verselbstständigung der Exekutive‹. Gerade weil der Liberalismus kein Kriterium hat, um die Faschisierung innerhalb der Zivilgesellschaft zu erfassen, bleibt ihm der Faschismus unbegreiflich.
Zwar sind Phänomene wie zunehmende Frauen- und Queerfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, die Zerstörung der Natur und Militarisierung zweifellos Zeichen einer Faschisierung. Doch sie liefern kein präzises Maß, um zu bestimmen, wann die Zivilgesellschaft faschisiert ist. Das Volk ist immer schon gespalten innerhalb der Zivilgesellschaft. Jede liberale Analyse der Faschisierung ist zwangsläufig verspätet: Man bemerkt stets zu spät, dass man sich bereits im Faschismus befindet. Dies ist die Antwort auf die eingangs gestellte Frage. Vielleicht liegt eines der Kennzeichen des Faschismus gerade darin, dass keine kritische Wissensproduktion mehr möglich ist. Die Voraussetzung dafür, dass eine Gesellschaft sich in einer Konjunktur des Faschismus befindet, ist das Ende der kritischen Wissensproduktion – und wir bewegen uns unaufhaltsam in diese Richtung.
Ein deutliches Zeichen zeigt sich in der wachsenden Präsenz und Akzeptanz der Polizei auf dem Campus. Mit der Normalisierung der Polizeipräsenz, die durch den ständigen Verweis auf angebliche Sicherheitsrisiken legitimiert wird – Risiken, die vermeintlich von den Studierenden selbst ausgehen –, etabliert sich eine polizeiliche Logik. Diese Logik ordnet jeden Raum, fixiert ihn und schreibt Unbeweglichkeit vor. Wer die Polizei auf dem Campus duldet, weil sie gegen die eigenen politischen Gegner*innen vorgeht, legitimiert nicht nur die Polizei, sondern macht sich selbst zu ihrem Verbündeten. Die wiederkehrende Anwesenheit der Polizei auf dem Campus geht einher mit einer schleichenden Disziplinierung der Körper. Diese autoritäre Ordnung bestimmt, was sie tun dürfen, welchen Protest sie äußern können, wann und unter welchen Bedingungen dies erlaubt ist. Wer diesem Prozess nicht widerspricht, nur weil er oder sie momentan nicht direkt betroffen ist, hat die grundlegende Solidarität bereits aufgegeben. Hannah Arendt beschreibt dieses Phänomen präzise: Der Faschismus zeichnet sich nicht dadurch aus, dass klar ist, wer die Feind*innen sind – das war schon immer bekannt. Er zeigt sich vielmehr darin, dass die prinzipiellen Verbündeten zu Feind*innen erklärt werden, dass die Paranoia sowie der Verrat überhandnimmt und damit die Gewöhnung an das System endgültig vollzogen wird. Der wahre Feind des Faschismus ist der Kommunismus, die reale Bewegung die den bestehenden Zustand aufhebt.
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1
Siehe Stuart Hall, „Popular-demokratischer oder autoritärer Populismus“, in Populismus und Aufklärung, hg. von Helmut Dubiel, 1. Aufl, Edition Suhrkamp (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986), S. 84–105.
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2
Karl Marx, „Aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, in Marx Engels Werke, hg. von Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 1 (Berlin: Dietz Verlag, 1961), 201–336, S. 304.
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3
Gunther Teubner, Verfassungsfragmente: gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung, 1. Aufl., Orig.-Ausg, Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft 2028 (Berlin: Suhrkamp, 2012), S. 131.
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4
Jacques Derrida, Gesetzeskraft: der „mystische Grund der Autorität“, 9. Auflage (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2022), S.83.
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5
Étienne Balibar, We, the People of Europe? Reflections on Transnational Citizenship, Translation / Transnation (Princeton: Princeton University Press, 2009), S. 109.
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6
Jost Müller, Mythen der Rechten: Nation, Ethnie, Kultur (Berlin: Edition ID-Archiv, 1995), S. 164.