Editorial: No Limits
Seit wir vor wenigen Monaten das Thema für die aktuelle Ausgabe festgelegt haben, scheint die Welt dem Motto »no limits« getreu gefolgt zu sein.
Die Entgrenzung der alten Ordnung nimmt in schier exponentieller Beschleunigung ihren Lauf. Nachdem damals auf einer Pressekonferenz von Union und SPD das Stichwort »no limit« für die »Verteidigungsausgaben« gefallen ist, haben die NATO-Länder ihr »Limit« nun um das Zweieinhalbfache nach oben gesetzt. Der geschichtsträchtige NATO-Gipfel entblößte auch gleich die nächste Entgrenzung: Mit allen erniedrigenden Mitteln versuchen Politiker*innen den Präsidenten der USA bei guter Laune zu halten. Auch dem Schleimen sind keine Limitationen gesetzt.
Gut geölt brummt die Entgrenzungsmaschine also weiter. Deportationen finden in unserer Mitte statt, in den Vereinigten Staaten wird die Armee auf diejenigen losgeschickt, die dagegen protestieren. Derweil generiert eine künstliche Intelligenz den (un)passenden Begleitkontext und behauptet zunehmend, die offensichtlichen Fehler seien keine Fehler. Katy Perry fliegt ins Weltall im Namen des Feminismus, Jeff Bezos heiratet in Venedig für den guten Zweck, bunkerbrechende »Penetrator«-Bomben spalten geheime Nuklearforschungseinrichtungen. Die Liste der jüngsten Entgrenzungsnachrichten sprengt auch den Rahmen dieses Editorials – aber zum Glück bietet die Ausgabe erhellende Artikel, um sich in dieser schwindelig beschleunigten Welt zu orientieren.
Wir sind sehr dankbar für die Vielzahl von Beiträgen, die uns zu diesem Thema erreicht haben. Zum einen beinhaltet unsere Ausgabe Essays über die wiedererstarkte Militarisierung, die losgelöste Austeritätspolitik in Argentinien oder auch die absurdesten Überlebensstrategien der entfesselten Superreichen. Zum anderen erfahren wir im Interview mit den Kurator*innen der Ausstellung »Fixing Futures« aber auch von der Kontingenz der Zukunft, die in ihrer apokalyptischen Tendenz eben nicht determiniert ist, sondern ebenso positiv, lösungsorientiert gestaltet werden kann. So beleuchtet diese Ausgabe auch die Möglichkeit der konkreten Utopien einer Welt ohne Grenzen. Dass das allerdings vorerst utopisch bleibt, verdeutlicht unser Interview mit dem Hessischen Flüchtlingsrat und den Bedingungen ihrer Arbeit unter der neuen Bundesregierung.
Über das Ausgabenthema hinaus freuen wir uns, dass wir wie immer im Forum Debatten über aktuelle Bucherscheinungen weiterführen können. Besonders hervorheben möchten wir unsere Gastbeiträge zum Ausgabenthema: Der Politikwissenschaftler Thomas Sablowski bespricht für uns den Umbruch der globalen Ordnung und der Journalist Baha Kirlidokme geht essayistisch den (wieder) entgrenzten Raumfahrtprogrammen nach. In einem Interview zu seinem neuen Buch, erklärt der Philosoph und Mathematiker Rainer Mühlhoff, welche Gefahren von »künstlicher Intelligenz« ausgehen könnten, gerade wenn ihre Entwicklung mit einer Faschisierung der Welt einhergeht.
Von den drängenden Problemen dieser Zeit sollte sich die Gesellschaft nicht distanzieren. Der Leiter des Instituts für Sozialforschung, Stephan Lessenich, erinnert in einer Rede vor den Absolvent*innen der Gesellschaftswissenschaften, die wir in dieser Ausgabe auszugsweise abdrucken durften, dass wir den gesellschaftlichen Problemen trotz und wegen ihrer exponentiellen Zunahme entgegentreten müssen. Der Beginn dafür ist die Erkenntnis – von dem, was ist, und dem, was wirklich anders sein könnte.