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Ein brutalistisches Betongebäude vor gelben Vierecken

Wie sähe dein Schreiben aus, in einer Welt, in der jegliche Ungerechtigkeit behoben sein würde? Worüber würdest du schreiben, welche Kunst würdest du produzieren? Diese Fragen, gestellt von einer Autorin bei einem Dinner über die Zukunft des Theaters, an dem ich vor einigen Monaten teilgenommen hatte, trafen mich unvorbereitet.

Wie wäre mein Schreiben beschaffen, wenn ihm die Leitplanken, die es formten, fehlen würden? Wie wäre es, nicht anschreiben zu müssen gegen Gewalt, Armut, soziale Ungleichheit? Nicht nach Formen und Ausdrucksweisen suchen zu müssen für strukturelle Beschämung, für Ängste, für die Wut, die mir, auf der Suche nach einer Gefahr, vor der sie mich schützen kann, immer zwei Schritte voraus ist? 

Ich war ratlos. Entsprechend verwurschtelt geriet meine Antwort. Ich nuschelte etwas in die Richtung, dass es in einer idealen Welt immer noch Konflikte gäbe, bei denen Interessensgruppen für ihr Projekt kämpfen würden. Obwohl es das war, was ich für wahr hielt, änderte es nichts daran, dass mich die Frage kalt erwischt hatte, nicht nur als Autor. Auch als Mensch, unabhängig vom Schreiben. 

Wer bin ich, wenn ich nicht gegen etwas bin?

In der kurdischen Freiheitsbewegung gibt es einen Ausruf, dessen Wahrheit mich schon länger beschäftigt. Er lautet Berxwedan Jiyan e (zu Deutsch: Widerstand heißt Leben). Auf einen ähnlichen Gedanken stoße ich bei der Lektüre von Didier Eribons »Eine Arbeiterin«. Eribon zitiert dort den Arzt Xavier Bichat, der sagt: »Das Leben ist die Gesamtheit der Funktionen, die dem Tod widerstehen«. 

Wie ernst es der kurdische Freiheitskampf mit dem Ausdruck meinte, davon handelt eine meiner prägendsten Kindheitserinnerungen. Ich war elf oder zwölf Jahre alt, da griffen kurdische Aktivist*innen in meiner Nachbarschaft zur Waffe des Hungerstreiks. Dadurch wollten sie gegen die Verhaftung des kurdischen Oppositionellen Abdullah Öcalan protestieren. An einem langen weißen Zelt war ein Zähler angebracht, auf ihm war der jeweilige Tag des Hungerstreiks vermerkt. Als ich das Camp mit dem Zelt sah, war ich mit meiner Mutter auf dem Nachhauseweg vom Einkaufen. Ich fragte sie, warum die Menschen in dem Zelt hungerten. An das Gefühl, das mich beschlich, als ich die Männer mit ihren ausgemergelten Gesichtern sah, erinnere ich mich bis heute. Ich war zutiefst erschrocken darüber, wie weit Menschen bereit waren für eine Sache, an die sie glaubten, zu gehen. 

Dieses Erschrocken sein war nicht etwas, das von außerhalb kam. Vielmehr räsonierte es mit einer eigenen Verunsicherung, die ich von klein auf in mir trug. Ich wurde mit einer Wahrheit konfrontiert, die, in meinem Körper schlummernd, nur darauf wartete, sich zu veräußern: Voranzukommen, das bedeutet, mit der Welt im Kampf zu stehen. 

Eine Geschichte der Kriminalisierung 

Mehr als zwei Jahrzehnte später sitze ich in der Wohnung meines Vaters an seinem Wohnzimmertisch, dort, wo sich alles Leben abspielt, im obersten Stock eines Chinoneser Sozialbaus. Wir trinken Wein und unterhalten uns, ich komme mir schrecklich französisch vor, obwohl, oder gerade weil ich die Vatersprache nicht sehr gut beherrsche. 

Mit meinem Vater ist es leichter über Politik zu sprechen als über ihn oder mich, doch dieses Mal ist etwas anders. Gerade habe ich ein wenig von mir erzählt. Ich sage, dass ich, immer wenn ich zurück nach Hamburg käme, dort erstmal von alten Freunden darüber aufgeklärt würde, was in der Zwischenzeit passiert sei. Das hört sich in etwa so an: Ein Bekannter sitzt im Gefängnis wegen Drogen. Ein Anderer hat ein Verfahren wegen Körperverletzung und Drogendelikten. Manchmal aber auch: Jemand ist gestorben. Oder vor ein paar Monaten: der und der hat sich mit einer selbstgebauten Bombe die Hand weggesprengt. Mein Vater denkt kurz nach, dann sagt er, dass es eine große Überraschung sei, dass ich Bücher schreibe. Es sei wahrscheinlicher, dass ich im Gefängnis säße. Damit hat er einen Punkt, denn die Geschichte meiner Familie ist eine Geschichte der Bestrafung, der Verfolgung und der Kriminalisierung:

Mein Vater saß im Gefängnis; mehrfach.

Mein Großvater saß unzählige Haftstrafen ab, dazu war er während der Nazizeit mehr als vier Jahre als politischer Gefangener in verschiedenen Konzentrationslagern interniert.

Der erste Mann meiner Uroma saß ebenfalls ein, zwischen dem Ersten und dem Zweitem Weltkrieg. 

Meine Ur-Ur-Oma verbrachte die letzten Jahre ihres Lebens in einer geschlossenen Psychiatrie. 

Ihre Tochter, meine Uroma, beging in hohem Alter Suizid. 

Psychische Krankheiten in beiden Teilen meiner Familie so weit das Auge reicht: Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen, Gewalt. Männer, die nachts auf die Felder zum Klauen gehen, um der Familie etwas auf den Tisch zu stellen. Bestrafung im Faschismus, Bestrafung im Sozialismus, Bestrafung in der Demokratie. Die Mitglieder meiner Familie sind noch durch jedes Raster gefallen. 

Ein Ende der Gewalt

Ich habe mir gesagt: Bei mir hört es auf. Ich will weder Traumata weitergeben noch Gewalt. Will nicht aus einem leidenden Opfer zu einem leidenden Täter werden, wie so viele vor mir. Es ist leichter gesagt als getan. Ich habe mich als Erwachsener ein paar Mal geschlagen, habe ein paar Mal Drogen verkauft, habe ein paar Mal vor den Augen anderer die Fassung verloren, Gegenstände geworfen, gegen Sachen getreten, mir die Hände an der Wand blutig geschlagen – und dennoch: hier endet es. 

Was ergibt sich daraus für eine Zukunft für mich, was bedeutet diese Entscheidung für meine Kunst? So wie es viele Mitglieder meiner Familie schwer hatten, Regeln einzuhalten, deren Befolgung sie benachteiligte, so ist der Impuls zu schreiben in meinem Fall bereits Auflehnung. Der Rapper Disarstar schreibt: »Es ist, als hätt ich was verpasst/Ihr geht nach Australien, meine Jungs gehen in Knast«. 

Es war nicht das leere Blatt Papier, das in der Vergangenheit von Mitgliedern meiner Familie beschrieben werden wollte, es war der Antrag auf die vorzeitige Haftentlassung. Zu schreiben, das bedeutet, diesen Platz infrage zu stellen.

An dem Abend des Theaterdinners hat sich meine Antwort auf die Frage nach meiner Kunst in einer idealen Welt minderwertig angehört. Als wäre meine Fantasie dadurch erschöpft, gegen etwas zu sein. Ich frage mich: Bedeutete es, dass alle Mitglieder meiner Familie in ihrem Kampf mit der Welt immer bloß dagegen waren – oder waren sie durch ihren Kampf nicht auch für etwas? Könnte man nicht, ähnlich dem Negativ eines Fotos, ihren Kampf, ihr Scheitern, ihr Zugrundegehen an den Verhältnissen umdeuten, in dem man herausarbeitet, wofür sie gewesen waren?

War mein Großvater, der nicht nur Opfer der Nazidiktatur war und dessen familiäre Gewalt großes Leid über unsere Familie gebracht hat, in seinem Kampf gegen den Faschismus, nicht für eine Welt, in der ihn niemand unterdrückte? Sagte mein Vater nicht, in dem er Drogen dealte: Seht her, ich würde auch anderes verkaufen, wenn ihr es mir leichter machen würdet. War der Sprung meiner Urgroßmutter vom Balkon nicht auch ein Kampf um einen Rest an Würde? 

Wenn diese Gedanken stimmen, dann sehe ich es als Schriftsteller als meine Aufgabe an, diese Welt zu formulieren. Das Foto mit Inhalt zu füllen, die Seite mit Text. Aus dem Kampf gegen etwas, das herausschälen, wofür die Anstrengung unternommen worden war. Peter Weiss beschreibt diese Bewegung in »Die Ästhetik des Widerstands«: »Unser Studieren war von Anfang an Auflehnung. Wir sammelten Material zu unserer Verteidigung und zur Vorbereitung einer Eroberung«. In diesem Gedanken ist alles enthalten: Im sich Wehren steckt gleichzeitig der Angriff.

Diese Welt, die du imaginierst, ich sehe sie ebenfalls

Der Schriftstellerin, die mir bei dem Dinner die Fragen gestellt hat, würde ich heute antworten: Diese Welt, die du imaginierst, ich sehe sie ebenfalls. Aber meine Rolle wird sein, sie mitzuerschaffen. Meine Rolle wird nicht sein, sich zu befragen, wer ich hätte sein können, wenn all die physischen und psychischen Narben und Deformationen der letzten 130 Jahre nicht an den Körpern meiner Familie gezerrt hätten. Denn sie haben es und darunter haben wir gelitten. Und dieses Leid ist der Treibstoff, der mich auf eine egalitäre Welt hinwirken lässt. Ich schreibe nicht trotz dessen, ich schreibe deswegen.

Meine Rolle wird auch nicht sein, mir vorzustellen, welche Kunst ich schaffe, wenn diese Welt, an der ich arbeite, eintritt. Und vielleicht tritt sie gar nicht ein: Vielleicht gibt es nicht den einen perfekten Zustand; vielleicht wird es in einer Welt, in der die Rechte möglichst vieler möglichst gleich sind, immer etwas geben, für das es sich zu kämpfen lohnt.

Ich kann weder wissen noch erahnen, wer ich ohne mein verkörpertes Wissen bin. Ohne jenes Wissen, das eine Landschaft aus Narben und Verunsicherung, aus Ohnmacht und Anspannung in mir hinterlassen hat. Ich muss es auch nicht. 

Kunst und Körper getrennt voneinander zu verstehen geht auf ein Kunstverständnis zurück, über das Peter Weiss an einer Stelle in »Die Ästhetik des Widerstands« schreibt: »Wir nahmen zuerst an, daß die Entkörperung eine der Voraussetzungen zur Herstellung von Kunst sei, daß der Produzierende sich aufgab, um etwas außerhalb seiner selbst zu gewinnen. Doch dies klang wieder unvernünftig, stellte die Kunst unsrer Überzeugung nach doch größte Realität dar, und solche war nur zu erreichen durch die Anspannung aller Lebenskräfte«. 

Vielleicht braucht es einen Brutalismus der Herzen, in der Kunst, und in der Gesellschaft. Ähnlich dem Architekturstil des Brutalismus, der von klaren Linien, großflächigem Einsatz von Beton oft als grob oder ehrlich beschrieben wird, würde eine brutalistische Darstellung der Welt in der Kunst die inhärente Gewalt in unserer Gesellschaft nicht länger verschleiern oder negieren, sie würde sie offen legen. Und sie würde das Merkmal des Kampfes betonen.

Denn das Leben zu lieben bedeutet, zu kämpfen. Frei nach Xavier Bichat wäre meine Kunst gespeist durch die Gesamtheit der Funktionen, die dem Tod widerstehen.