
Als ob nichts wäre: Zum Problem gesellschaftlicher Problemdistanzierung
Der Vortrag wurde von Stephan Lessenich auf der Absolvent*innenfeier des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität am 26. Mai 2025 gehalten. Die Redaktion der AStA-Zeitung hat den Vortrag transkribiert und gekürzt, dabei aber den Vortragsstil beibehalten. Stephan Lessenich selbst hat leichte Überarbeitungen vorgenommen und dankenswerterweise die Erlaubnis erteilt, ihn in der AStA-Zeitung abzudrucken.
Sehr geehrte Absolvent*innen,
ich möchte mich den Glückwünschen anschließen und hoffe, Sie haben einiges aus Ihrem Studium mitgenommen und nehmen jetzt noch das Letzte mit, nämlich wahrscheinlich die letzte Soziologie-Vorlesung in Ihrem Leben. Verwandte, Bekannte, Freunde, Freundinnen, ich hoffe, Sie sehen es mir nach, dass Sie jetzt eine halbe Stunde lang zwangsförmig mit Soziologie behandelt werden. Und ich kann nicht versprechen, dass es nicht wehtut. Ich habe mich entschlossen, da Sie ja heute viel zu feiern haben, über die dunklere Seite des gesellschaftlichen Geschehens zu sprechen. Mein Vortrag trägt den Titel »Als ob nichts wäre: Zum Problem gesellschaftlicher Problemdistanzierung«. Es geht im Kern um die Frage der Realitätsabwehr, die wir alltäglich praktizieren, die Abwehr der Realität und die Konstruktion von Gegenrealitäten. Und damit meine ich nicht Verschwörungstheoretiker*innen, die das Coronavirus leugnen. Ich meine auch nicht Trump-Fanatiker*innen, die in ihrer eigenen Realität leben. Ich meine ganz normale Bürger*innen, Studierende und ihre Eltern, wie sie heute Abend hier zusammen sind. Ich beschäftige mich mit einem – so könnte man sagen – Problem zweiter Ordnung. Denn diese Gesellschaft hat ein Problem mit ihren Problemen. Sie hat Probleme, mit ihren Problemen umzugehen. Darum geht es mir heute Abend, und um das der Alltagswelt auch möglichst anzunähern, beschäftige ich mich mit einem allseits bekannten gesellschaftlichen Problem.
Der Klimawandel gegenüber dem »Klimawandel«
Ich beschäftige mich mit dem gesellschaftlichen Problem des »Klimawandels« – und warum ich das Wort in Anführungszeichen setze, werde ich Ihnen gleich noch sagen. Und es geht zunächst um den Klimawandel mit Blick auf den »Klimawandel«. Existenzielle Probleme sind Probleme, die die eingeübten Formen der gesellschaftlichen Reproduktion, also der Organisation des gesellschaftlichen Lebens und der dauerhaften Stabilisierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Gesellschaft grundlegend in Frage stellen. Dazu zählt selbstverständlich der Krieg. Eine Gesellschaft, die dem Krieg ausgesetzt ist, hat massive Probleme, ihre eingeübten, gewohnten, normalisierten Organisationsformen weiterzutreiben. Aber auch die Gesellschaft im Klimawandel hat ein existenzielles Problem, denn wir können und müssen davon ausgehen, dass Absolvent*innenfeiern in 30 oder 50 Jahren nicht im selben Rahmen veranstaltet werden können, wie das heute noch der Fall ist.
Der Klimawandel ist ein existenzielles Problem – und ich habe den »Klimawandel« hier in Anführungszeichen gesetzt, weil schon die Bezeichnung des gesellschaftlichen Problems als »Klimawandel« ein Teil der Realitätsabwehr ist. »Klimawandel« klingt minder dramatisch. Manche reden deswegen gerne von Erderhitzung. Das Wort »Klimawandel« suggeriert, dass sich etwas verändert und dass wir dieser Veränderung aber Herr werden können. Und mir scheint es durchaus zweifelhaft und fraglich, ob diese Gesellschaft – eine Gesellschaft, die sich so organisiert, die ihr Zusammenleben so gestaltet, wie diese Gesellschaft es tut – tatsächlich den Klimawandel bewältigen kann. Der Klimawandel, oder eben: die Erderhitzung ist die massive menschengetriebene Veränderung der biophysikalischen Grundlagen des individuellen und des gesellschaftlichen Lebens. Der Klimawandel ist eine hintergründige Dauerkrise, die aber erstaunlicher- und widersinnigerweise – und damit komme ich schon zu der Realitätsferne der Gegenwartsgesellschaft – an politischer Bedeutung und Prominenz verloren hat in den letzten Jahren.
Die Corona-Pandemie hat dem Klimaaktivismus den Garaus gemacht. Fridays for Future als klimapolitische Bewegung, die die Öffentlichkeit erreichte und vor der sich Politik in gewisser Weise auch zu fürchten hatte, existiert nicht mehr. Die Letzte Generation hat ihre Aktivitäten des sogenannten Klimaklebens eingestellt. Aktivitäten, die die Normalität dieser Gesellschaft zumindest irritiert und daher nicht zufällig auch aggressive Reaktionen der Betroffenen herausgefordert haben. Die Letzte Generation hat sich quasi aufgelöst, umbenannt und hat vor allem aufgegeben, ihre die Bevölkerung irritierenden Organisationsweisen und Interventionsformen weiterzutreiben. Kein Kleben mehr auf Asphalt, keine Behinderung mehr des Verkehrs. In der vergangenen Bundestagswahl spielte das Thema Klimawandel praktisch keine Rolle. Selbst die Grünen, die ja parteipolitisch gesehen als die Interessenvertreter*innen derer auftreten, die an einer effektiven Bekämpfung des Klimawandels interessiert sind, haben dieses Thema in den letzten Wochen der Bundestagswahl zurückgestellt, weil sie zu Recht befürchten mussten, ansonsten noch mehr Stimmen einzubüßen. Auch im neuen Koalitionsvertrag spielt das Thema nur eine randständige Rolle.
Das ist eine Diskrepanz, also eine Distanz zwischen Problemschwere und der Dringlichkeit, die dem Problem in der gesellschaftlichen Debatte, aber dann eben auch im politischen Handeln gegeben ist. Diese Distanz ist bemerkenswert – und vielleicht noch mehr als das. Ich würde sagen, sie ist unheimlich. Denn der öffentliche Bedeutungsverlust des Themas in den letzten Jahren steht in einem starken Kontrast zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Weiterentwicklung des sogenannten Klimawandels, die an Deutlichkeit eigentlich nichts zu wünschen übriglassen. Man muss keine besonders kritischen Medien verfolgen, es reicht schon, wenn Sie wöchentlich den Naturwissenschaftenteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lesen, wo Sie auf den letzten Stand der Klimaforschung gebracht werden. Und es wird einem tatsächlich angst und bange, wenn man die Evidenz, die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die dort rein beschreibend präsentiert werden, wirklich ernst nimmt. Wir befinden uns in einer Klimaspirale, wo die bisherige Erderwärmung weitere Erderwärmungsdynamiken entzündet und wo bestimmte Schwellenwerte, von denen man dachte, sie würden erst in Jahren erreicht, schon heute erreicht werden. Unser gesellschaftliches Leben wird sich grundlegend verändern in den nächsten Jahrzehnten. Und erstaunlicherweise sind wir individuell, aber vor allem kollektiv völlig distanziert von dieser Aussicht. Diese verallgemeinerte Ruhe vor dem Sturm – die gesellschaftliche Ruhe vor dem klimatischen Sturm der Zukunft – ist eine bemerkenswerte soziale Tatsache. Der Sturm kommt, wir wissen um den Sturm, er ist absehbar, er lässt sich berechnen, er ist kaum zu vermeiden. Und gleichzeitig gibt es eine seltsame Ruhe, herrschen Selbstberuhigung und Fremdberuhigung. Diese Diskrepanz ist so unheimlich wie der Klimawandel selbst. Und mit dem Verweis auf das Unheimliche möchte ich Sie schon auf eine Fährte setzen, die in die Richtung von auch einer psychoanalytischen Durchdringung dieser Problematik führt.
Das Problem der Problemdistanzierung
Vergangenen Donnerstag gab es eine Tagung am Sigmund-Freud-Institut unter dem Titel »Nach uns die Sintflut?«. Bei dieser Tagung wurde versucht zu erklären, wie die Diskrepanz zwischen dem Wissen um den Klimawandel und der Nichttätigkeit angesichts dessen Realität erklärt werden kann. Meiner Ansicht nach besteht ein wesentlicher Bestandteil dieser Realitätsabwehr darin, die Veränderungen nicht an sich heranzulassen. Sie nicht nur nicht kennen zu wollen, sondern sie nicht anerkennen, sie nicht fühlen zu wollen. Ich möchte diesen Aspekt im Laufe meines Vortrags besonders hervorheben. Das Problem ist also die Problemdistanzierung, die in unserer alltäglichen Lebensführung als gesellschaftliche Individuen existiert – wir alle je einzeln distanzieren uns von der Realität, nehmen Abstand von der Realität. Wir beziehen individuell Distanz zu der Problemschwere und Dringlichkeit, und wir nehmen auch kollektiv Distanz ein. Und diese Distanzierung – hier bin ich gut kritisch-theoretisch, wie es sich für Frankfurter Verhältnisse gehört – von einem offensichtlichen gesellschaftlichen Problem, das kollektive Einvernehmen der Gesellschaft, bestimmte Probleme nicht wahrnehmen zu wollen oder sie nicht angemessen bearbeiten zu wollen, ist Teil der Rationalität dieser Gesellschaft.
Die herrschende Art und Weise, mit gesellschaftlichen Problemen umzugehen, ist eine, die gesellschaftliche Probleme gerade verstetigt, immer wieder neu hervorbringt und tendenziell verschärft, und die nicht zur Verbesserung der sozialen Situation großer Mehrheiten, sondern weltweit zur Verschlechterung der Lebensverhältnisse führt. Denn was hinter dem Klimawandel steht, ist die hemmungslose Vernutzung von natürlichen Ressourcen, wie sie diese Gesellschaft – als eine der maßgeblichen ökonomischen Mächte weltweit – seit Jahrzehnten, Jahrhunderten betrieben hat. Ein permanenter, systematischer, immer wieder neu vollzogener Raubbau an natürlichen Ressourcen. Es fängt schon dabei an, dass man diese natürlichen Ressourcen »Ressourcen« nennt, und dass der Raubbau auf einem Stand der wirtschaftlichen Entwicklung, der in diesem Land ein historisches Höchstmaß erreicht hat, fortgeführt wird.
Diese Gesellschaft ist irrational in dem Maße, wie sie, trotz erreichter maximaler Entwicklung, in jedem Jahr, in jeder Periode eine weitere Schippe drauflegen muss. Irrational ist der eingelagerte Zwang, sich nicht nur gesellschaftlich zu reproduzieren, also das Leben in Gesellschaft zu verlängern und das gemeinsame gesellschaftliche Zusammenleben zu ermöglichen. Sondern dies auf immer höherer Stufe der materiellen Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse tun zu müssen, ist die kapitalistische Rationalität, die eingelassen ist in die Verfasstheit dieser Gesellschaft. Eben diese Rationalität ist in einem hohen Maße irrational. Irrational, weil sie dazu führt, dass zwangsförmig Natur und aber auch die Arbeit der Menschen vernutzt werden muss – zwangsläufig auf immer erweiterter Stufe. Und dies in einer Weise, bei der die Ergebnisse der Reichtumsproduktion systematisch ungleich verteilt sind und mit der gleichzeitig die Möglichkeiten eines Ausstiegs aus dieser Irrationalität immer wieder neu verstellt werden.
Das war klassisches Thema der Kritischen Theorie – die in dem Maße aktuell ist, wie die Probleme, die diese Gesellschaft hat und die als Probleme entweder nicht erkannt oder nicht anerkannt werden, sich immer weiter fortschreiben. Die Entwicklung dieser Gesellschaft folgt einer Logik, aber einer Logik, die verquer ist. Ebenso irrational ist auch die Logik der faktischen Verleugnung eines existenziellen Problems. Beide Irrationalitäten gehören dabei zusammen: Die Form der Gestaltung gesellschaftlicher Entwicklungen – beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland – und die Form des Umgangs mit den Problemen, die diese Gesellschaftsform zeitigt. Denn der Klimawandel ist nicht nur menschengemacht, sondern er ist genauer gemacht durch eine bestimmte Form der Organisation von Gesellschaft, des menschlichen Zusammenlebens. Menschen alleine machen noch keinen Klimawandel, sondern die Industrialisierung, die industriekapitalistische Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens, steht maßgeblich bis zum heutigen Tag hinter dem, was wir Klimawandel nennen. Diese Logik kann nicht durch die herrschenden Formen der Problembearbeitung außer Kraft gesetzt werden. Im Gegenteil. Sie wird weiter verstetigt und verschärft. Warum aber kann diese Logik, die man als irrational, als schädlich, als nicht im Interesse gesellschaftlicher Mehrheiten oder gar der Gesamtheit der Menschen stehend begreifen muss, aber dennoch als rational bezeichnen? Weil sie kurzfristig gesehen im Interesse von vielen einzelnen Menschen dieser Gesellschaft ist. Zwar nicht aus selbst gewählten Gründen, sondern weil sie Teil dieser gesellschaftlichen Organisationsform sind. Sie sind verstrickt in gesellschaftliche Zusammenhänge – und selbstverständlich hat jede und jeder Einzelne von uns ein Interesse daran, dass es irgendwie weiter geht, dass Gesellschaft weiter so funktionieren möge, wie wir sie kennengelernt haben. Mit all ihren Unzulänglichkeiten, aber in der Art und Weise, dass meine individuelle Existenz gesichert ist, dass die Existenz meiner Kinder gesichert ist, dass meine Kinder es vielleicht sogar weiter bringen können als ich, dass sie studieren, dass sie dank ihres Studiums in erwartbarer Weise dann auf Arbeitsmärkten, auf Konsummärkten ihre Lebenschancen verwirklichen können.
Wir sind in das Selbstverständnis sozialisiert, dass all das, was wir als individuelle Lebensentwürfe haben und was wir gesellschaftlich für erstrebenswert halten, dass all dies zwangsläufig verbunden ist mit der Art und Weise, wie wir wirtschaften, wie wir arbeiten, wie wir konsumieren, wie wir leben. Ebenso eng verstrickt mit dem Bestehenden sind unsere Vorstellungen auch von dem, was gut und was schlecht, was richtig und was falsch ist. Und insofern ist es durchaus rational, diese bestehende Einrichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu verteidigen – fast egal was passiert. Ich könnte jetzt zu anderen gesellschaftlichen Problemen kommen, die wir haben. Es ertrinken jedes Jahr Tausende von Menschen im Mittelmeer. Auch hier ist es für uns dennoch individuell und kollektiv rational, dies hinzunehmen. Die Rhetorik, dass das Boot voll ist, verfängt.
Solange die Option für das Weiter-so für uns individuell und gesellschaftlich realisierbar ist, realisieren wir sie auch. Dieses Realisieren einer Möglichkeit, nämlich so weiterzumachen wie bisher, bedarf aber gleichzeitig einer Ausblendung der Realität. Die Ausblendung der Tatsache, dass wenn wir das, was wir bisher gemacht haben, weiterhin betreiben, unsere Zukunft verstellt ist. Ich möchte wenigstens noch einen Vertreter einer aktivistischen kritischen Theorie hier kurz zitieren: Herbert Marcuse. Er hielt das Unbeeindruckt-Sein des »glücklichen Bewusstseins« einer großen Mehrheit der Leute von der Irrationalität des Ganzen für einen der beunruhigendsten Aspekte der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation. Ich würde mich dem anschließen – und dies, mehrere Generationen später, in verschärfter Weise. Wir sind eins geworden mit der Rationalität dieser Gesellschaft: wie sie gestaltet ist, wie sie sich entwickelt, welche Wertvorstellungen, welche Normvorstellungen sie an uns heranträgt. Wir schmiegen uns an diese gesellschaftliche Rationalität an, passen uns an, und deswegen meinen wir, individuell in einem Zustand der Zufriedenheit, der Glücklichkeit zu sein. Also mehr oder weniger. Sie, die Absolvent*innen des Fachbereichs, haben ein glückliches Bewusstsein. Sie werden es zu etwas bringen, denn sie können ihre erworbene Qualifikation einsetzen, um es in der Gesellschaft zu Status, Einkommen, wertvollen sozialen Beziehungen zu bringen. Alles kein Problem. Aber vor dem Hintergrund dessen, dass diese Gesellschaft ein existenzielles Problem hat, wird das individuelle Glück zu einem kollektiven Problem.
Die Politik des Als-Ob
Ich möchte deshalb von einer Politik des Als-Ob sprechen. Aus einer soziologischen Perspektive geht es dabei nicht allein um die »große« Politik. Auch, aber nicht nur. Es wird nicht nur eine institutionelle Politik des Als-Ob betrieben, sondern wir alle im Privaten, im Alltäglichen, in unserer Lebensführung betreiben Mikropolitiken: alltägliche kleine Politiken des Als-Ob. Ich möchte drei Varianten dieses Als-Ob kurz unterscheiden, die zugleich drei Varianten von Realitätsabwehr in dieser Gesellschaft sind, aber natürlich ließe sich die Liste erweitern.
Die eine ist so tun, als ob nichts wäre. Einfach so weitermachen, einfach weiter vor sich hin prozessieren. Man könnte diese Variante nicht nur als klinische Definition, sondern auch in einer etwas metaphorischen Begriffsverwendung als Verdrängung bezeichnen. Das, was passiert, egal ob im Mittelmeer oder in den anderen versteckten Regionen Europas und der Welt, wird einfach verdrängt. Es ist nicht Teil des Wissenshaushalts und nicht des Bewusstseinshaushalts, vor allem nicht des handlungspraktisch bedeutsamen Bewusstseinshaushalts. Man könnte jetzt nochmal Differenzierteres dazu sagen, was da abgespalten wird, was wie abgeblendet wird. Aber es geht tatsächlich um eine Verdrängungsleistung, eine Verdrängung des Unheimlichen. Politisch wie alltagspraktisch wird so weiter gemacht, als ob es keinen Klimawandel gäbe, als ob die Dringlichkeit des Handelns nicht auf der Hand läge.
Die zweite Variante ist womöglich interessanter: nämlich so tun, als ob man etwas täte. Das, was man macht, erklärt man zu einer intentionalen Zielverfolgung. Es wird so getan, als ob man gegen das existenzielle Problem etwas täte, aber zugleich auch so getan, als ob nicht so schnell etwas getan werden müsste. Dann können die Klimaziele revidiert werden, dann können Abgasrichtlinien wieder einkassiert werden, dann können Lieferkettengesetze plötzlich wieder zurückgezogen werden und ähnliches. Dann tut man so, als ob man etwas täte, und das kippt aber offensichtlich immer auch hin zum faktischen Nichts-Tun. Das so tun, als ob man etwas täte möchte ich als Rationalisierung definieren.
Und eine dritte, auch äußerst interessante Variante des Als-Ob: So tun, als ob man alles tun könnte. Das nenne ich Solutionismus. Es gibt die weit verbreitete Vorstellung, die Wunschvorstellung, dass der Klimawandel sich technologisch lösen ließe, und dass da draußen, nicht nur im Schwabenland und im Silicon Valley, sondern auf der ganzen Welt viele innovative Köpfe und unternehmerische Einzelne daran arbeiten, diese Technologien zu entwickeln, zur Marktreife zu bringen und dann auch umzusetzen, auch mit viel staatlicher Förderung und Subventionierung. Das geht dann von Riesenpanelen, die man in die Atmosphäre schießt und dort aufhängt, um die Sonnenstrahlen zu reflektieren, bis zu der Vorstellung, dass man das Emissionsgut doch unter die Erde oder unter den Meeresboden verpressen könnte. Auch das ist eine Form der Realitätsabwehr. Der Glaube an die Macht der Technologie ist eine Form der Verleugnung, die Abwehr der Realität dessen, dass das, was schon passiert ist an menschen-, an kapitalismusgemachten Klimawandel, nicht zurückzudrehen ist und dass mit jedem Tag, den wir warten und den wir hoffen, dass irgendwelche Supertechnologien uns retten könnten, die Kosten des Nichthandelns höher werden.
Damit meine ich nicht nur die ökonomischen Kosten einer Umgestaltung von gesellschaftlicher Infrastruktur, und zwar in allen Bereichen nötig werden wird, sondern auch die Kosten für die Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Und all diese drei Orientierungs- und Handlungsmuster des Als-ob gehen einher mit Verschiebungen und Projektionen von Problemen. Wenn man nicht den Klimawandel für das zentrale Problem hält und so tut, als ob nichts wäre, als ob man etwas täte oder als ob man etwas etwas tun könnte, dann verfällt man angesichts der Unheimlichkeit dieses Problems darauf, andere gesellschaftliche Probleme in den Mittelpunkt zu stellen und diese zur »Mutter aller Probleme« zu erklären. Das Zitat stammt von Horst Seehofer als Bundesinnenminister, und die »Mutter aller Probleme« ist selbstverständlich die Migration. Sie wird zum existenziellen Problem erhoben, während die existenziellen Probleme erster Ordnung nicht behandelt werden.
Was tun?
Ich komme zum Ende. All dem entgegenzusetzen wäre das Realitätsprinzip. Das klingt einfach, ist aber immens schwierig und auch analytisch nicht so ohne weiteres darzulegen. Es ist unerlässlich, das wie auch immer schmerzhafte Realitätsprinzip erstmal wieder in Anschlag zu bringen, Realität nicht abzuwehren, sondern zu erkennen, anzuerkennen und dann idealerweise auch irgendwie handlungswirksam werden zu lassen. Das ist das, was zu tun wäre. Jetzt bin ich weder Psychotherapeut noch Politikberater, deswegen erwarten Sie sich nicht zu viel, aber ich möchte andeuten, was passieren müsste gesellschaftlich, was individuell bei jedem von uns Einzelnen passieren müsste und was im gesellschaftlichen Prozess des Austausches, der Aushandlung, der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse passieren müsste, um überhaupt realitätstüchtig zu werden. Nämlich das, was Sigmund Freud in seinem Text »Trauer und Melancholie« Respekt vor der Realität genannt hat – heute also vor dem Klimawandel. Wir müssten Respekt haben vor dem, was da passiert.
Was heißt das? Mindestens drei Schritte sind meines Erachtens dafür nötig. Wir müssten den schon eingetretenen und den zu erwartenden Schaden anerkennen. Schluss mit in die Tasche lügen. Es ist schon viel verloren. Unwiederbringlich verloren. Und wenn wir zufällig in Weltregionen leben, wo man noch nicht merkt, dass schon vieles verloren ist, dann sollten wir anerkennen, dass in vielen anderen Weltregionen der Klimawandel nicht nur etwas ist, das zukünftige Generationen bedroht, sondern bereits Gegenwart ist, eine Realität, die alltäglich Menschen tötet und ihnen das Leben verunmöglicht und riesige Migrationsbewegungen in Gang setzt, die wir dann für die »Mutter aller Probleme« halten. Der bereits eingetretene Schaden müsste anerkannt werden und das, was wir an weiteren Schäden zu erwarten haben, was wir, selbst wenn wir jetzt das Tempo der Klimabearbeitung massiv erhöhen würden, dennoch zu erwarten haben, das müsste in einem ersten Schritt anerkannt werden, weil diese Realitäten unser zukünftiges Leben massiv verändern werden.
Und ich bin kein Trauerredner hier, habe auch nicht die Qualifikation dafür, und es mag esoterisch klingen, aber es ist wirklich so, dass tatsächlich Trauer angemessen ist angesichts dessen, was schon verloren gegangen ist, was bei anderen jetzt schon verloren gegangen ist und was wir selber verlieren und verlieren werden. Was zerstört wurde, ist unwiederbringlich verloren. In anderen Weltregionen leiden Menschen massiv unter den Folgen des Klimawandels, ihnen werden die grundlegenden Möglichkeiten der Subsistenz entzogen. Und ja, wir können auch trauern über das, was ansteht, nämlich dass sich unser Leben strukturell ändern wird. Dass das, was wir heute an Möglichkeiten, an Optionen, an Selbstverständlichkeiten wahrnehmen, dass das nicht mehr möglich sein wird, dass das als Option ausgeschlossen sein wird. Darüber ist Trauer angesagt.
Und über diese Anerkennung und über die Trauer wäre überhaupt erst an die Möglichkeit einer Umkehr zu denken, auch in Reflexion auf die eigenen Widerstände gegen eine solche Umkehr. Das wissen Sie vielleicht, wenn Sie jemals mit einer Psychoanalyse konfrontiert waren, dass es auch darum geht, die eigenen Widerstände gegen die Wahrnehmung der Realität erst mal kennenzulernen. Wahrscheinlich ist es nicht möglich, diese Widerstände völlig zu überwinden, aber sie zu akzeptieren ist der erste Schritt. Und darum geht es, glaube ich, auch gesellschaftlich: Realität und die Veränderung von Realität, der wir nicht ausweichen können, zu akzeptieren, sie wirklich anzuerkennen, um dann überhaupt ansatzweise ins Handeln kommen zu können. Es geht also um nicht weniger als die Rückkehr der Realität in die Gesellschaft. Und ich möchte schließen mit der Umkehr dieses jetzt schon seit Jahrzehnten emblematischen Ausspruchs von Neil Armstrong, als er eine für ihn und die Menschheit unbekannte Welt betrat. Da meinte er, vermeintlich oder tatsächlich, dass es ein kleiner Schritt für ihn sei, jetzt den Mond, eine ganz neue Welt zu betreten, aber ein großer Schritt für die Menschheit. Und ich würde sagen, heute ist es umgekehrt. Wenn wir akzeptieren, was real ist, dann ist es ein großer Schritt für uns, aber – leider – immer noch ein kleiner für die Menschheit. Vielen Dank.
»Die kritische Theorie erklärt: es muss nicht so sein, die Menschen können das Sein ändern, die Umstände dafür sind jetzt vorhanden«
Max Horkheimer, 1937