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Eine Nagelschere durchschneidet eine Bezahlkarte für Geflüchtete

Timmo Scherenberg ist Geschäftsführer des Hessischen Flüchtlingsrats und arbeitet dort seit 20 Jahren. Die AStA-Zeitung sprach mit ihm über das Ruanda-Modell der CDU, Bezahlkarten, Grenzschließungen, Abschiebeflüge und über die dramatischen Folgen einer zunehmend repressiv geprägten Migrationspolitik.

Könntest du den Hessischen Flüchtlingsrat kurz vorstellen?

Der Hessische Flüchtlingsrat versteht sich als Dachorganisation der freien Flüchtlingsarbeit in Hessen – also für Initiativen, die nicht an große Wohlfahrtsverbände wie Caritas oder Diakonie gebunden sind. Wir vernetzen Engagierte in der Flüchtlingsarbeit, bieten Fortbildungen an, betreiben Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit auf Landesebene und arbeiten eng mit Pro Asyl zusammen.

Was sind aktuell eure Arbeitsschwerpunkte?

Unsere Arbeitsschwerpunkte liegen derzeit vor allem in der Beratung. Politische Arbeit wird kaum finanziert, daher müssen wir diese meist nebenbei leisten.

Was ist von der schwarz-roten Koalition in den nächsten vier Jahren migrationspolitisch zu erwarten? Das Thema dieser Ausgabe ist »No Limits« – kennen Innenminister Alexander Dobrindt und Bundeskanzler Friedrich Merz überhaupt noch ein Limit?

Ehrlich gesagt: Nein. Wenn man sich den Koalitionsvertrag anschaut, sieht das ziemlich finster aus. Klar, die CDU wollte ursprünglich noch deutlich weiter gehen und die SPD lobt sich nun dafür, Schlimmeres verhindert zu haben. Aber ganz ehrlich: Viel wurde da nicht verhindert.

Was meinst du konkret damit?

Na ja, man sieht zum Beispiel: Das, was die CDU da will, ist zu großen Teilen Symbolpolitik – aber eben eine sehr gefährliche. Am Ende des Tages werden rechtsstaatliche Standards eingerissen und Maßnahmen beschlossen, die zwar wenig praktische Wirkung haben, aber massive Signale senden. Manche Maßnahmen werden aber auch ganz reale und dramatische Auswirkungen haben.

Zum Beispiel?

Ein zentrales Beispiel ist die Idee, Schutzsuchende pauschal in Drittstaaten abzuschieben. Die CDU hat das in ihr Grundsatzprogramm geschrieben – nicht wörtlich »Ruanda«, aber sinngemäß: Alle, die in Deutschland oder Europa Asyl beantragen, sollen in Drittstaaten gebracht werden und auch nach einem positiven Bescheid dortbleiben. Das ist die offizielle Linie der CDU. Damit will man sich praktisch komplett von der Verantwortung verabschieden – was nicht nur rechtsstaatlich hochproblematisch, sondern auch zutiefst neokolonial ist. Man »kauft« sich arme Länder ein, in denen man dann unliebsame Menschen parkt.

Das sogenannte »Ruanda-Modell« war ein Vorhaben der britischen Konservativen, Asylbewerber:innen nach Ruanda zu deportieren, wo diese auch nach Anerkennung ihres Asylantrags verbleiben sollten. 2024 kündigte die sozialdemokratische Labour-Regierung den Deal mit dem zentralafrikanischen Staat jedoch wieder auf.

Und wie sieht es mit den aktuellen Maßnahmen aus?
Die Koalition hat ja direkt am ersten Tag losgelegt – Stichwort: Grenzschließungen und Zurückweisungen. Das war der symbolische Auftakt. Das ist rechtlich hoch umstritten und wahrscheinlich rechtswidrig. Es geht nicht um Recht, sondern um Signale: nach innen an die eigene Basis, nach rechts an mögliche AfD-Wähler:innen und nach außen an Geflüchtete: Kommt nicht, ihr seid nicht willkommen.

Aber sind diese Zurückweisungen überhaupt relevant in der Praxis?

Fast gar nicht. Die ersten Zahlen von Dobrindt zeigten: In der ersten Woche wurden 32 Menschen, die ein Asylgesuch geäußert hatten, zurückgewiesen. Bei 10.000 Asylanträgen pro Monat macht das 0,3 Prozent. Und für diesen verschwindend kleinen Effekt wird massiv Grundrechtsschutz aufgegeben – etwa die Freizügigkeit innerhalb der EU oder das Recht auf Asyl.

Gibt es weitere geplante Verschärfungen?

Ja, mehrere. Zum Beispiel der Familiennachzug für subsidiär Geschützte. Der wurde schon 2016 ausgesetzt und später mit einer Kontingentregelung wieder eingeführt – 1.000 Menschen pro Monat durften nachkommen. Jetzt soll das wieder komplett gestoppt werden. Und das betrifft ganz konkret syrische Familien, die teils seit Jahren getrennt sind. Auch alle humanitären Aufnahmeprogramme – zum Beispiel für besonders gefährdete Menschen aus Afghanistan – wurden gestoppt. Also selbst die legalen Wege werden versperrt.

Wie erleben geflüchtete Menschen den rassistischen Diskurs in Deutschland?

Also ich meine, wir haben ja ganz eindrücklich gesehen, was nach diesem Anschlag in Aschaffenburg passiert ist. Das wurde ja in der Folge einerseits von Teilen der Union ausgeschlachtet, die sagten, jetzt müsse eine große Asylwende her, aber natürlich und der ganze Diskurs tobte dadurch noch mal richtig nach diesem Attentat in Aschaffenburg. Ein paar Tage später fand eine Trauerkundgebung von solidarischen Leuten statt. Da ergriff ein kleines afghanisches Mädchen das Mikrofon und entschuldigte sich bei der versammelten Kundgebung dafür, dass ein Afghane so etwas Schlimmes getan hätte. Da dachte ich mir: An welchem Punkt sind wir hier angekommen, dass sich ein kleines elfjähriges Mädchen für ein völlig absurdes Gewaltverbrechen entschuldigen muss? 

Welche Funktion haben die – vor allem in der Vergangenheit – immer wieder inszenierten Abschiebeflüge nach Afghanistan?

Faktisch sind sie irrelevant, aber symbolisch enorm wirksam. Wir sprechen von einem einzigen Abschiebeflug nach Afghanistan seit der Machtübernahme durch die Taliban. Deutschland hat rund 20.000 ausreisepflichtige Afghan*innen. Wenn man nur einmal im Jahr einen Flieger mit 20 Personen losschickt, bräuchte es über 1.000 Jahre, um sie alle abzuschieben – und das ohne neue ankommen.

Trotzdem: Der eine Flieger wird weltweit wahrgenommen – etwa in Pakistan, wo viele vor den Taliban Geflüchtete ausharren. Dort heißt es dann: »Deutschland schiebt nach Afghanistan ab.« Genau das ist die beabsichtigte Wirkung.

Und welche Folgen hat diese Politik für die Community? 

Damals, vor dem Machtwechsel in Afghanistan, haben ja die Leute gesagt, die in der Jugendhilfe gearbeitet haben oder in Sprachkursen waren: In der Woche, in der so einen Flieger gibt, kannst du bei uns den Unterricht einstellen. Alle Leute, egal ob die minderjährig sind, ob die schon einen Schutzstatus haben, ob die noch im Verfahren sind, alle denken sich: »Ich könnte auf dem nächsten Flieger sein.« Die Unruhe, die damit in die Community geschaffen wurde, ist sehr, sehr groß. Und das sind genau die Effekte, die damit auch erzielt werden sollen.

Und auch da sind dann so Debatten entstanden um die Grenzpolitik. Die jetzt zwar, wie gesagt, faktisch nur ein Prozent betrifft, aber ein riesiges politisches Signal sendet. Und das ist leider etwas, was sich durchzieht: Viel ist in diesem Bereich Symbolpolitik, deren reale Wirkung gering, aber die Signalwirkung enorm hoch ist. 

Apropos diskriminierende Symbolpolitik, wie hast du eigentlich die Einführung der Bezahlkarte erlebt?

Das war das Prestigeobjekt des hessischen Ministerpräsidenten Boris Rhein, der den Vorsitz der Ministerpräsidentenkonferenz innehatte. Er hat sich da mit ganz großen Federn geschmückt und das als wichtigen Baustein zur Verhinderung ›illegaler‹ Migration, ›Schleusertum‹ und ›Sozialmissbrauch‹ dargestellt. 

Viele Leute bezahlen im Alltag zwar weniger mit Bargeld, aber faktisch wird die Freiheit von Geflüchteten eingeschränkt. Kann ich mit meinem Geld wirklich machen, was ich will? Vor allem Infrastrukturen für ärmere Menschen funktionieren häufig nur mit Bargeld. Das betrifft etwa Flohmärkte, online Kleinanzeigen, Gebrauchtkaufhäuser oder auch kleine türkische Supermärkte und andere Läden mit ausländischen Spezialitäten. Das sind oft genau die Geschäfte, in denen man nicht mit Karte zahlen kann. Gerade dort also, wo viele Geflüchtete einkaufen müssen, wird das durch die Einschränkung auf Karten deutlich erschwert.

Die Bezahlkarte ist zutiefst paternalistisch – ein Vorgehen, an dem sich viele Menschen zurecht stören. Genau deshalb engagieren sich derzeit so viele gegen diese Bezahlkarten, gründen Tauschbörsen und entwickeln alternative Konzepte. Und was man aktuell auch sieht, das ist fast ein gegenteiliger Effekt ist, dass viele Menschen wieder aktiv in die Geflüchtetenarbeit einsteigen und ganz konkrete Solidarität zeigen. Das finde ich sehr schön.

Wie lautet denn deine Prognose? Gibt es noch eine Zukunft für eine progressive Wende, oder müssen wir uns auf einen langen autoritäre Drift einstellen?

Ich hatte da mal so eine Art persönliche Theorie, inspiriert von den biblischen »sieben Jahren«. Diese Zyklen passen irgendwie auch ganz gut zu unseren politischen Entwicklungen. Wir hatten eine recht gute Phase, nicht perfekt, aber mit kleinen, kontinuierlichen Verbesserungen. Die lief etwa von 2008 bis 2015. In dieser Zeit wurden zum Beispiel die Residenzpflicht abgeschafft, es gelang, das Bleiberecht für langjährig hier lebende Menschen zu etablieren – eine alte Forderung –, und es trat eine gesetzlich verankerte, stichtagsunabhängige Bleiberechtsregelung in Kraft. Auch der Flüchtlingsschutz wurde in Teilen verbessert, der Familiennachzug erleichtert und so weiter.

Und dann kam ab 2015 eine schlechte Phase, wieder sieben Jahre, mit Seehofer und einer ganzen Reihe von Verschärfungen. Als die Ampelkoalition ihren Koalitionsvertrag vorstellte, hatte ich kurz Hoffnung, dass nun wieder eine progressive Phase anbrechen könnte. Aber es wurden dann nur sieben gute Monate – dann war es vorbei mit der Ehrlichkeit und dem Reformwillen. Jetzt müssen wir sehen, wie lange die aktuelle dunkle Phase andauert. Klar ist: Egal, was »die da oben« beschließen – Menschen werden weiterhin fliehen, Flüchtlinge haben keine Wahl. Sie werden weiterhin nach Deutschland kommen, das lässt sich nicht verhindern. Und sie werden sich – zunächst in vielen kleinen, individuellen Kämpfen – durchsetzen. Irgendwann wird daraus auch wieder eine kollektive Bewegung entstehen. 

Themen wie Flucht und Asyl werden zurück auf die Tagesordnung kommen. Natürlich wird es in nächster Zeit erst einmal bitter. Das politische Programm wird deutlich nach rechts verschoben. Aber ich bin dennoch optimistisch: Kämpfe lohnen sich. Es werden auch wieder bessere Zeiten kommen.