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Eine Hand mit einer Schachfigur in der Hand

Wieso Nuklearwaffen nur die Sicherheit der Atommächte erhöhen

Bereits im September letzten Jahres, droht Wladimir Putin in einer Rede zur Lage in der Ukraine indirekt mit dem Einsatz von Atomwaffen, sollte er die »territoriale Integrität« seines Landes bedroht sehen. Obwohl er ausdrücklich hinzufügt, dies sei »kein Bluff«, wird die Drohung im Westen überwiegend als solcher aufgefasst. Wenige Monate später tritt Russland nun allerdings aus dem sogenannten New Start-Abrüstungsvertrag mit den USA aus, der eine Obergrenze für die Anzahl von Nuklearwaffen vorsieht. Den Begriff der »letzten Generation«, der über dieser Ausgabe steht, werden viele Leser:innen in erster Linie mit der sich anbahnenden Klimakatastrophe in Verbindung bringen. Angesichts dieser Entwicklungen flammt jedoch die Angst vor einem anderen Szenario wieder auf, das uns zur »letzten Generation« machen könnte. 

UN-Generalsekretär Guterres sieht in den Spannungen, die zwischen Russland und der Nato aufgrund des russischen Angriffes auf die Ukraine entstanden, die »größte nukleare Gefahr seit dem Kalten Krieg«. Während dieser Periode erlebte auch die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Atomwaffen einen Höhepunkt. Anfangs waren Forscher auf diesem Feld noch davon ausgegangen, die Existenz von Nuklearwaffen sowohl aufseiten der Sowjetunion als auch der USA, würde Kriegshandlungen zwischen den beiden Parteien unterbinden. Grund für diese Annahme war, dass bei einem atomaren Angriff jederzeit die Möglichkeit bestand, noch zurückschlagen zu können. Diese sogenannte second-strike capability sorgt dafür, dass der Preis für den Einsatz von Atomwaffen auf ein inakzeptables Niveau steigt. 

Bis heute ist diese Annahme fest in unserem Denken verankert. Sie ist der Grund, wieso wir auch im Zeitalter von Nuklearwaffen nachts ruhig schlafen können und wieso Drohungen, wie die Putins, nur als Schachzüge identifiziert werden. In der ukrainischen Öffentlichkeit gibt es deswegen Stimmen, welche die damalige Entscheidung bereuen, die sowjetischen Atomwaffen auf ukrainischem Gebiet an Russland zu übergeben. Im Gegenzug hatte man damals im Rahmen des Budapester Memorandums die Unverletzlichkeit der ukrainischen Grenzen ausgehandelt, nachdem die UdSSR zusammenbrach. Spätestens seit der Annexion der Krim sehen sich Kritiker der Entscheidung daher bestätigt. 

Die Wahrheit ist jedoch, dass dieses jahrzehntealte theoretische Konstrukt der gegenseitigen Abschreckung ohnehin wacklig ist. Dies liegt unter anderem daran, dass seitdem eine gewisse technologische Entwicklung stattgefunden hat. So ist heutzutage zwischen strategischen Atomwaffen, die einzig und allein zur Abschreckung dienen sollen, und sogenannten taktischen Atomwaffen zu unterscheiden. Letztere verfügen zwar in der Regel über eine geringere Sprengkraft, sind jedoch für den tatsächlichen Einsatz auf dem Gefechtsfeld konzipiert. Ist die Hemmschwelle zum Einsatz von taktischen Nuklearwaffen also eventuell niedriger? 

Man befürchtet, dass sogenanntes low-level fighting zwischen zwei Atommächten – wie wir es beispielsweise in der Ukraine sehen – Stück für Stück eskalieren und zum Einsatz dieser Waffen führen könnte. Solche Situationen sind nicht neu. Während des Kalten Krieges versuchten die Sowjetunion und die USA bekanntermaßen immer wieder, die eigene militärische Position gegenüber dem anderen zu verbessern, ohne direkt gegeneinander zu kämpfen. Da diese Konflikte jedoch immer außerhalb der eigenen Staatsgebiete und ohne Konfrontationen zwischen US-amerikanischen und sowjetischen Soldaten ausgetragen wurden, waren die auf dem Spiel stehenden Interessen nie groß genug, um einen Atomschlag in Erwägung zu ziehen. Dennoch kam man diesem Punkt einige Male gefährlich nahe. Am nähesten stand die Welt einem atomaren Krieg vermutlich im Jahr 1962, als die UdSSR, als Antwort auf amerikanische Raketen an ihrer Grenze, ebenfalls Mittelstreckenraketen im kommunistischen Kuba stationieren wollte. McGeorge Bundy, damaliger Sicherheitsberater von Präsident Kennedy, gab später jedoch zu, dass die Kompromissbereitschaft im Weißen Haus während dieser Krise »größer war als Kennedy es jemals öffentlich zeigte«.

Zumindest solange die entscheidenden politischen Akteure der Atommächte rational handeln, ist das Szenario eines Nuklearkrieges, der uns zur »letzten Generation« macht, also eher unwahrscheinlich. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist jedoch, dass es seit der Erfindung von Nuklearwaffen trotzdem nicht weniger Krieg gibt. Vielmehr tragen die Atommächte – derzeit (noch) allen voran die Nato und Russland – ihre Konflikte nun außerhalb der eigenen Staatsterritorien aus. Man unterstützt bestimmte Kriegsparteien in einem innerstaatlichen Konflikt und versucht somit seinen geopolitischen Einfluss auszuweiten. Von Zentralamerika über Afghanistan bis Korea sind die Konsequenzen früherer Eingriffe dieser Art gravierend und bis heute zu spüren. In Syrien zeichnet sich derzeit ein ähnliches Bild ab. Was es für die Ukraine bedeuten wird, bleibt abzuwarten.